Mit Krähen-Kraft ins neue Jahr

Mit gezücktem Schwert rennt ein Mensch wütend gegen eine Steinmauer. Zwei Krähen, auf einem Baumstamm oben auf der Mauer balancierend, schauen ihm amüsiert zu. Im neuen Jahr möchte ich immer öfter wie eine dieser Krähen die Welt betrachten.

Das Bild gehört zu einem Tarotset. Die Mauer hat sich der Mensch selbst geschaffen und fühlt sich nun gefangen. Er versucht, zu entkommen – mit Mitteln, die ihn vermutlich eher zerstören als dass er die Mauer einschlagen könnte. Ein Teil der Schwerter liegt schon zerbrochen am Boden. Der Mensch verliert im Kampf seine Kraft und erreicht nichts. Würde er einmal von seinem Anrennen ablassen, könnte sich ein Fenster auftun. Oder die Krähen ließen den Baumstamm hinuntergleiten, sodass der Mensch auf ihm nach oben und hinaus klettern könnte.

Die Krähen kennen die Verhältnisse in der Gefangenschaft, und sie sehen die Möglichkeiten außerhalb. Sie hüten als mächtige Krafttiere die Gesetze des Universums und sie wissen, wenn unser Handeln nicht mehr im Gleichgewicht ist mit diesen Gesetzen. Die Krähen-Kraft hilft uns dabei zu erkennen, wo wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher, wo etwas im Argen liegt. Die Vögel verschaffen sich einfach einen Überblick und schauen, welche neuen Wege jenseits der Mauern gegangen werden können. Sie sind wach, kreativ und sehr humorvoll.

Frau Percht vertreibt die Zeit

Frau Percht, die Wilde, die aus dem Chaos (Er-)Schaffende vertreibt die Zeit und fegt hinweg Struktur und Ordnung. Es ist die Nicht-Zeit des Nichtstuns, in der die Träume frei fliegen – in manchmal schwindelerregender Höhe und doch nie absturzgefährdet. Nichts ist wirklich bedrohlich. Denn Frau Percht, die Strahlende, hat zuvor das Licht des Lebens neu entzündet. Dunkelheit und Verwirrung sind aufgehoben in geborgener Stille. Es ist Raum, sich ehrlich selbst zu begegnen.

Die Raunächte beginnen mit der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember und enden am 6. Januar. Sie werden bezeichnenderweise  auch Tage zwischen den Jahren genannt und geben uns Gelegenheit, über die Schwelle bewusst in einen neuen Zyklus zu treten. Es ist die Nicht-Zeit des Orakelns, des Räucherns, der Spaziergänge, des Einatmens der klaren, kalten Luft, des Innehaltens, des Überprüfens und des behutsamen Vorausschauens.

Stehen bleiben

Ich flüchte zu der alten Esche, meiner treuen weisen Ratgeberinnen. Der Wunsch nach Innehalten prallt gegen die vermeintlichen Zwänge des Berufs- und Konsumalltags, die Sehnsucht nach Besinnlichkeit kämpft gegen das kalte Flimmern der Elektro-Kerzen, die eigenen Bedürfnisse streiten mit denen der anderen. Alles scheint zu rasen. Der Baum bleibt stehen.

Völlig verwirrt in der allgemeinen Verwirrung bitte ich um einen Hinweis, eine Handlungsempfehlung. Schau, was ist, bevor du dich darin verlierst, was werden könnte, höre ich. Ich setze mich auf eine der Wurzeln und lehne mich an den Stamm. Ich atme tief ein und erleichtert aus. Allein aus dem Sein entsteht Veränderung.

Ein Lichtlein brennt

Advent, dunkle Zeit, ein Lichtlein brennt.
Es ist für die Erde, tief flüsternd,
Lass dich fallen
in den Schoß des Vertrauens.

Advent, dunkle Zeit, ein Lichtlein brennt.
Es ist für das Feuer, zärtlich knisternd,
Lass dich berühren
vom Herzen der Welt.

Advent, dunkle Zeit, ein Lichtlein brennt.
Es ist für das Wasser, sanft plätschernd,
Lass dich tragen
vom Fluss des Lebens.

Advent, dunkle Zeit, ein Lichtlein brennt.
Es ist für die Windin, leise pfeifend,
Lass dich erinnern
an den Zauber des Werdens…

…aus der Dunkelheit

Weltraum-Schätze

Wir schreiben das Jahr 2020. Der Astrophysiker Karl Schneider blickt dorthin, wo der Mars sein könnte und träumt davon, auf dem fernen Planeten eines Tages einen Schatz zu heben. Da landet vor seiner Haustür ein Raumschiff. Ein Wesen, das aussieht wie ein Mensch, steigt aus, und sagt: „Hallo, ich bin auf der Suche nach einem Schatz.“

Karl Schneider zwickt sich schnell in die Hand. Kein Zweifel, er ist wach. Das Wesen kommt näher und lächelt ihn an. Schneider staunt über die indigo-farbene Haarpracht seines Gegenübers. Vielleicht der verkleidete Astro-Alex, überlegt er. „Hallo“, sagt der Astrophysiker. „Seid ihr vom Fernsehen?“ „Fernsehen?“, fragt das Wesen zurück, „was ist das?“ Schneider räuspert sich und stellt sich vor. „Und wer sind Sie?“ „Ein Schatzsucher“, antwortet das Wesen. Er habe sich von einem fernen Planeten auf die Reise zur Erde gemacht, weil es hier etwas ganz Besonderes, Einmaliges gebe, erklärt der Schatzsucher, der also tatsächlich ein Außerirdischer sein will. Schneider hat gerade Urlaub und ihm ist langweilig. Kurz überlegt er noch, dann beschließt er, dem seltsamem Fremden zu glauben. „Gut“, sagt er zu dem Besucher, „dann zeige ich dir einfach, was es bei uns Besonderes gibt.“

Also machen sich der Astrophysiker und der Außerirdische auf die Suche nach dem ganz Besonderen. „Wir haben jetzt immer mehr Autos, die mit Strom betrieben werden, und bald können sie alle ohne Fahrer fahren“, erklärt Schneider. „Aha“, sagt der Schatzsucher. Ein Mädchen hüpft über den Gehsteig. Der Außerirdische lächelt. Merkwürdig berührt, irgendwie, findet Schneider. Das Mädchen sei wohl auf dem Weg in die Kita. „Kita?“, fragt der Außerirdische. Schneider erklärt ihm, was Kitas sind – und was Schulen, Nachhilfeunterricht und Elite-Universitäten. „Aha“, sagt der Schatzsucher.

Sie kommen zu einer riesigen Baustelle. „Das ist was ganz Besonderes“, sagt der Astrophysiker stolz. „Hier entstehen die größten Windkraft- und Photovoltaikanlagen der Welt.“ Dann könnten endlich sämtliche Kohlekraftwerke abgeschaltet werden. „Aha“, sagt der Außerirdische. Eine Frau mit einem Hund kommt vorbei. Der Hund läuft schwanzwedelnd zu dem Schatzsucher. „Was bist du denn für ein Toller“, sagt der und streichelt das Tier. Irgendwie wehmütig. Schneider erklärt ihm, was eine Hundezucht ist – und was Schweinezucht, Pflanzenzucht und Gentechnik. „Aha“, sagt der Außerirdische.

Vor einem Bankautomaten steht eine Menschenschlange. „Es dauert nicht mehr lange, dann brauchen wir kein Geld mehr, um zu bezahlen“, sagt der Astrophysiker. Und es gebe schon eine rein virtuelle Währung. Etwas nie Dagewesenes. „Aha“, sagt der Schatzsucher. Ein Mann sitzt vor ihm auf der Straße. Der Außerirdische will sich neben ihn setzen. Seltsam erfreut. Schneider hält ihn zurück und erklärt ihm, was ein Obdachloser ist – und was ein Hausbesitzer, ein Angestellter, ein Unternehmer, ein Börsenmakler und ein Global Player. „Aha“, sagte der Außerirdische.

Der Urlaub des Astrophysikers neigt sich dem Ende entgegen. „Okay“, sagt er ungeduldig, da sich die Begeisterung des Außerirdischen über das Gezeigte in Grenzen hält. „Du willst also wissen, was tatsächlich unsere größten Schätze sind?“, fragt Schneider, holt Luft und sagt siegesgewiss: „Das sind Rohstoffe, Gold, Diamanten, Billionen von Dollar und Euro, Aktienpakete, Immobilien..“ „Lass uns hier anhalten“, unterbricht ihn der Außerirdische. Er starrt gebannt aus dem Autofenster. Schneider blickt hinterher und sieht nichts außer Bäumen. Sie steigen aus. Unvermittelt nimmt der Schatzsucher den Astrophysiker freudestrahlend in die Arme und drückt ihn sehr fest. „Danke“, flüsterte er ihm ins Ohr, und im nächsten Moment läuft der Schatzsucher in den Wald. „Lass uns einen Spaziergang machen“, ruft er ausgelassen. Schneider folgt ihm völlig verdattert. Der Außerirdische beugt sich zu einem Strauch, pflückt ein paar Heidelbeeren, hält sie dem Astrophysiker hin und sagt traurig: „Wir hatten vergessen, dass man Geld nicht essen kann.“ Schneider kommen die Worte irgendwie bekannt vor. Er nimmt die Beeren in den Mund. Sie sind etwas ganz Besonderes.


*Ich las einen Zeitungsartikel über Zukunftspläne der Wirtschaft, Rohstoffe auf anderen Planeten und Asteroiden auszubeuten. Darauf fiel mir diese Geschichte ein.

Endlich Regen

Es regnet – sanft, leise, so als ob der Regen sich nach langer Abwesenheit wieder vorsichtig auf dieses Stückchen Erde heruntertasten wolle. Ich lächelte, als ich mir heute morgen beim Radfahren die Kapuze über den Kopf zog. Oft erst, wenn etwas fehlt oder umgekehrt im Übermaß vorhanden ist, wird uns die Bedeutung dieses Etwas bewusst. Bei sich leerenden Flüssen und Seen sehnen wir das Wasser von oben herbei, das uns bei Fluten und Gewitterstürmen lebensbedrohlich werden kann und das wir bei regelmäßigem Dasein als eher lästig empfinden, wenn wir keinen eigenen Garten oder Acker zu bestellen haben.

Zurzeit werden auch wir Stadtkinder an die Kraft des Regens erinnert. Ich suche in meinem Motherpeace-Tarot nach der Karte der Zehn Kelche. Darauf freut sich eine Gemeinschaft über den Regen, der die Samen auf ihren Feldern aufgehen und die Früchte wachsen lassen wird. In der Verbundenheit mit den kosmischen Gesetzen ist es den Menschen gelungen, den Regen herbeizurufen. Dafür danken sie. Nichts ist selbstverständlich und alles ist möglich.

Ich rausche mit meinem Rad durch eine Pfütze. Freue mich und sage danke.

Anregung zum Andersdenken

Eine syrische Freundin bat mich um Unterstützung bei einer Bewerbung. Wir suchten und sortierten die geforderten Unterlagen „Zusammenmachen?“, fragte sie und nahm die beiden Seiten des Lebenslaufes. „Ja“, sagte ich und stand auf, um einen Tacker zu holen. Als ich zurückkam, hielt mir meine Freundin stolz den Lebenslauf entgegen. Zusammengefügt in der rechten oberen Ecke mit dem Klebestift, der auf dem Tisch gelegen hatte. „Nein, das geht so nicht“, sagte ich halb schmunzelnd, halb streng. „Warum?“, fragte sie. In Deutschland sei das eben nicht üblich, antwortete ich. Meine Freundin zuckte die Schultern. Ich druckte den Lebenslauf neu aus. Es gebe für Bewerbungen einfach bestimmte Regeln, die einzuhalten seien, sagte ich noch und heftete die beiden Blätter zusammen – links oben. So!

Ein paar Tage später sitze ich im Zug und lese einen Artikel über Flüchtlinge. Die Landschaftsbilder auf der anderen Seite des Fensters ziehen an mir vorbei. Ich sinniere über Integration und Anpassung, das Eigene und das Fremde, das voneinander Lernen und das gegenseitige Hinterfragen. Ich denke an den zusammengeklebten Lebenslauf, daran, wie ich belehrend auf vermeintlich unumstößliche Regeln aufmerksam gemacht hatte. Ich komme mir beschämend überheblich vor. Meine syrische Freundin hatte sich mit den Mitteln, die ihr im Augenblick zur Verfügung standen, zu helfen gewusst. Der Klebestift lag bereit und sie nutzte ihn ganz praktisch. Warum nicht? Dem Empfänger oder der Empfängerin der Bewerbung hätte die persönliche Note vielleicht sogar gefallen.

Dem Winter davonrennen

Die Schleiher sind verwirrend dünn in der Zeit rund um den November-Neumond. Das Licht will sich zurückziehen, die Dunkelheit meldet sich mit Macht. Es fällt schwer, diesen unglaublichen Sommer zu verabschieden mit all der Sonne, den unbeschwerten Tagen draußen, dem flirrenden Treiben, dem ausgelassenen Feiern. Nein, noch ein bisschen Wärme, noch ein bisschen Helligkeit, noch ein bisschen Laub an den Bäumen. Die Toten, die Ahnen kichern: Daraus wird nichts. Was nicht sterben will, kann nicht weiterleben. Wer den Schatten fürchtet, den verbrennt das Licht. Ach, was! Nur noch ein bisschen über die Wiesen dem Winter davonrennen! Die Ahnen rufen: Daraus wird nichts. Ja, natürlich, rufen wir zurück. Ja, aber nein. Jetzt noch nicht. Die Ahnen verlieren die Geduld: Wenn ihr schon nicht selbst still schweigen könnt, lasst wenigstens den Samen des Neuen ihre Winterruhe! Und wenn ihr doch noch Ruhe findet, um euch selbst zuzuhören – umso besser.