Wenn Hunde schnüffeln, sagt mir jemand, lesen sie Zeitung. Sie nehmen dabei jede Menge Informationen auf. Allerdings bekommen die Hunde die Nachrichten aus erster Hand. Sie nehmen direkt wahr. Also, wie wäre es, statt einem Buch einmal die Erde zu lesen.
Die Holunderblüten beginnen zu strahlen. Dieser wunderbare Baum vor der Haustür ist mutige Vorreiterin, mächtige Heilerin, große Göttin… Ihre Blätter entfaltet sie früh, alles an ihr ist Medizin, und kaum eine andere Pflanze in unseren Breitengraden zeigt uns die Aspekte des Lebens in ihrer Vielfalt so wie sie. Also werde ich den Holunder lesen.
Das Leben passiert, während wir versuchen, es zu planen, vorherzusehen, zu regulieren, zu kontrollieren. Mag sein, dass der eine oder die andere irgendwann mal inne hält und sich erinnert an das, was da eigentlich alles war. In der Zeit, wo er, sie keine Zeit hatte. Gedanken tauchen auf über das, was ist, während ich darüber sinniere, was alles hätte sein können. Während ich mir über meine Work-Life-Balance Sorgen mache. Und plötzlich merke, wie absurd es ist, Arbeiten und Leben zu trennen.
Gerade jetzt zeigt uns die Natur – zu der wir ja dazugehören – wie selbstverständlich sich Leben gestaltet, neu erschafft, aus dem nährenden Dunkel ans Licht kommt. Möglicherweise können wir die Welt verändern allein dadurch, dass wir uns auf die Seite des Lebens stellen und uns den Kräften der Zerstörung verweigern.
Grau ist der Himmel, grau scheint die Erde. Nebelschleier verhüllen die Farben. Auch die eines zauberhaften Strauches, dessen gelbleuchtenden zarten Blütenblätter sich in die winterkalte Welt strecken. Wie kann das sein? Es ist … Magie im Spiel. Hexenhasel, Zaubernuss wird die Pflanze genannt, für die Indigenen in ihrer Heimat war sie eine der bedeutendsten Heilerinnen.
Die Virginische Zaubernuss ist eine von vielen Hamamelis-Arten. Aus Nordamerika eingewandert, ziert sie so manchen deutschen Wintergarten. Meist ungeahnt bleiben ihre schier unendlichen Einsatzmöglichkeiten auf dem Gebiet der Medizin. Blutstillend, antiseptisch, antioxidativ, schmerzstillend, harntreibend, entzündungshemmend, juckreizstillend, die Selbstheilungskräfte stimulierend: Die Liste ihrer Fähigkeiten ist lang. Die Heilkräfte verbergen sich in der Rinde und in den Blättern, die denen der europäischen Haselnuss ähneln. Zauberinnen sind sie beide.
Ich denke an Maya, als ich die Blüten der Hamamelis betrachte, an die Göttin, die aus dem Nichts alles erschafft, was wir mit den Sinnen wahrnehmen können. Es heißt, Maya täusche uns mit Trugbildern. Doch womöglich ist nicht die Materie Illusion, sondern der Schleier, der unsere Welt von den bunten Gesetzen der Schöpfung trennt.
Die heilmächtigen Frauen folgten den Krötenpfaden auf der Suche nach der Medizin der Natur. Im Dunklen, Wässrigen, Schleimigen der Sümpfe und Moore hoben sie Schätze und verbargen sich vor denen, die nach einer anderen Art der Macht strebten.
Verborgen mag auch heute Vieles sein, Verstecken ist ein Spiel für Kinder. Was uns Angst machen soll, können wir wieder als ureigene Verbündete erkennen: das Feuchte, das unsichtbare Unheimliche, das Sumpfige trägt den Samen des Erdenlebens und lässt ihn keimen und wachsen zur gegebenen Zeit. Das strahlende Licht im Außen gibt sich jetzt bescheiden in Respekt vor dem gebärenden Dunkeln im Inneren.
Balance mag ein Augenblick des Stillstands sein. Zur Frühlings-Tagundnachtgleiche stehen die Waagschalen von Hell und Dunkel im Gleichgewicht. Doch was innezuhalten scheint, ist längst schon wieder in Bewegung. Wenn wir uns wünschen, die Zeit möge stillstehen, fürchten wir im Grunde die ungewisse Veränderung. Das Leben lässt sich nicht aufhalten, es ist weder fest und starr noch vorhersehbar. Es ist ein unendliches Spiel, spontan, unberechenbar und unglaublich kreativ. Allein welche Bewegung ich in das große Netz der Erdenfamilie hineingebe, liegt in meiner Hand.
Der noch kalte Wind schiebt sich zwischen die schon wärmenden Sonnenstrahlen und meinen am Flussufer ausgebreiteten Körper. Die Kräfte des zu Ende gehenden Winters spielen mit denen des beginnenden Frühlings. Sanft schlagen die Wellen an den Strand. Alles ist weich an diesem Morgen: der Sand in meinen Händen, die Schwanenfeder im Gras, die Blätter in den aufsprießenden Knospen. Ich lasse das Bild aufsteigen, wie das Wasser des Rheins die unerschütterlichen Berge mit dem unerschöpflichen Ozean verbindet. Der Fluss fließt durch mich hindurch und nimmt zumindest einen Teil von dem mit, was mich daran hindert, mit dem Leben zu fließen.
Aufgetaucht aus der feuchten Erde, sattgrün leuchtend im geheimnisvollen Halbschatten, lässt er sich nicht schrecken von eisigen Nächten: Der Bärlauch zeigt sich, um das Leben zu nähren. Er ist ein Kind der Dunkelheit, des Nichts, erschaffen im Gestaltungsraum des inneren Leuchtens, in dem nichts ausgeschlossen und alles möglich ist.
Ich beuge mich hinunter zu den Blättern, pflücke sie einzeln, unter meine Fingernägel legt sich ein grünbrauner Rand. Mutter Erde.