Leben im Augenblick begreifen

Sie ist auf der Erde, um ihre Netze zu spinnen

Wie sind die Dinge, Lebewesen, Zustände in ihrem ursprünglichen Sein, bevor wir anfangen sie einzuordnen, zuzuordnen, abzuwägen, sie nützlich, schön, sympathisch, schrecklich, unmöglich zu finden? Es ist dieser kurze Augenblick des puren Wahrnehmens, für-Wahr-nehmens, der die Essenz des Lebens enthält.

Manchmal überkommt es mich, und ich will nichts mehr wissen aus zweiter Hand, sondern alles direkt be-greifen lernen. Wer könnte mir mehr über eine Rose erzählen als eine Rose? Ich frage die Spinne, warum sie ihr Netz vor meine Tür spinnt, wo sie doch wissen müsste, dass ich gleich hinausgehe und ihr Werk zerstören werde. Doch die Spinne denkt nicht daran, sich darüber Gedanken zu machen. Sie ist auf der Erde, um ihre Netze zu spinnen. Auch wenn morgen die Welt untergeht.

Standhalten und mitgehen

Ich denke nicht, ich sehe

Standhalten oder mitgehen, loslassen oder festhalten, sich wehren oder sich hingeben: Die satten Wiesen, durch die der Wind bläst, kennen kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch. Die Grashalme und Wildblumen biegen sich in einem gemeinsamen Tanz, sie fließen dahin, überlassen sich dem Sturm und bleiben doch fest verwurzelt stehen in den steilen Berghängen.

Der Widerspruch zwischen standhalten und mitgehen löst sich auf. In dem Bewegen und gleichzeitigem Stehenbleiben ist es, als ob die Wiesen Energie im Hier und Jetzt aufnehmen, ihren Teil behalten und das Meiste einfach weitergeben. Es ist, als ob sich ein Strom ergießt über die Kuppen der Hügel und hinauffließt in die oberhalb thronende geheimnisvolle Bergwand.

Die Bergwand betrachte ich lange und immer wieder – ohne Ziel, ohne Grund, ohne Absicht. Sie zieht mich in ihren Bann in ihrer Unerschütterlichkeit und Mächtigkeit, in ihrer Stille und Unergründlichkeit. Ich denke nicht, ich schaue. Mein Kopf darf leer werden, was mir Angst machen kann und im Moment einfach nur befreiend ist. Ich sehe. Die ruhigen Berge, die wogenden Wiesen, die rauschenden Bäume, den Bach im Tal und das Hausrotschwanz-Pärchen über mir, das seine Jungen füttert. Und wenn ich mich zur gegebenen Zeit bewegen werde, dann will ich dabei gut verwurzelt sein.

Bergwiese

Europa geht an den Strand

Kanadierinnen, Europäerinnen? Auf jeden Fall in Köln heimisch geworden.

Der feine Business-Pinkel Zeus rast mit seinem E-Roller über den Gehweg

und fährt Europa um, die vom Kirchenstreik Maria 2.0 kommt.

Die junge Frau stürzt auf einen hechelnden Mops, dessen Herrchen sie eine Tierquälerin schimpft.

Goldmünzen rollen aus Europas Taschen, nach denen die Umstehenden gierig greifen.

„Was liegst du hier auf der Straße, du Pennerin?“, schreit eine Radfahrerin. „Hast du nichts Besseres zu tun?“

Doch, denkt Europa, steht auf, schüttelt ihren Rock und macht sich auf den Weg zurück zu den blumenreichen Wiesen und dem Meeresrauschen am Strand von Sidon.

Coyote in einer ver-rückten Welt, Teil 2

Coyote war ausnahmsweise sehr zufrieden mit der Welt. Die Sonne schien seit Tagen warm vom Himmel. Er hatte die drei Eicheln, die drei Mal drei Mondinnen kein Licht gesehen hatten mit Hilfe eines Eichhörnchens gefunden. Und an seiner Seite ging eine ganz brauchbare Helferin – dieses seltsame Wesen, weder Kind noch Frau noch Mann und doch alles zusammen, das ihm irgendwie zugelaufen war. Er kannte mittlerweile seinen Namen: Caote – „mit C“, wie es, er, sie augenzwinkernd ergänzte. Coyote hatte die Stirn gerunzelt. Coyote, Caote. Er knurrte leicht, sagte aber nichts. Immerhin konnte er es, er, sie nun ansprechen. „Sag ,sie‘. Ist einfacher“, ergänzte Caote.

„Pass auf, Caote!“, rief Coyote, „die Eicheln fallen dir noch aus der Tasche!“ Caote hatte wieder einmal ein Rad gedreht und war aus dem Stand über Kopf gesprungen. Sie lachte nur und rief übermütig: „Die Esche wird die Eicheln schon bekommen. Keine Angst, du wirst dein Glied behalten.“ Sie hatten an einem Abend am Feuer gesessen, und Lagerfeuer machten Coyote immer sehr sentimental und sehr gesprächig. Da hatte er Caote von dem verlorenen Glied seines Ururgroßvaters erzählt, der nicht auf einen Baum gehört hatte. Coyote hatte also in der Tat ein bisschen Angst, ohne die gewünschten drei Eicheln vor der Esche aufzutauchen. Caote wusste jetzt auch, was es mit den Eicheln auf sich hatte. Sie wusste, dass Coyote aus seiner Heimat in dieses Land gekommen war, weil die Menschen ihn, den größten Überlebenskünstler aller Zeiten, nicht mehr beachteten. Darauf hatte eine Esche ihm angeboten, drei Aufgaben zu lösen, wollte er wieder wertgeschätzt werden.

Coyote und Caote erreichten den Wald und kamen zu besagter Esche. „Whow“, rief Caote, „das ist eine mächtige alte Dame!“ Coyote zerrte an ihrem Arm. „Beleidige sie bloß nicht“, rief er. „Danke für das Kompliment“, sagte die Esche. Coyote sah verwundert von der Esche zu dem seltsamen Wesen und wieder zurück und beschloss, nicht verstehen zu müssen, warum jemand gerne alt genannt werden wollte. „Ich habe die Eicheln“, sagte er stattdessen stolz. „Sehr gut“, sagte die Esche. „Und du hast eine Begleiterin gefunden.“ Coyote flüsterte: „Ich bin mir nicht sicher, ob sie eine Frau ist.“ Die Esche lachte herzlich.

„Nun, mein Lieber“, sagte die Esche, „die erste Aufgabe hast du gelöst. Bist du bereit für die zweite?“ Coyote zuckte lässig mit den Schultern. „Warum nicht?“ Er musste sich eingestehen, dass der Deal mit dem Baum eine sehr verrückte Aktion ganz nach seinem Geschmack war. „Also, hör gut zu“, sagte die Esche. Coyote spitzte die Ohren. „Die zweite Aufgabe lautet: Lass mich den Duft von mindestens 375 Erdenwesen riechen, die niemals den Weg zu mir in den Wald finden werden.“

Coyote sagte lange, lange nichts, was sehr ungewöhnlich war. Schließlich jaulte er auf. „Wie soll das denn gehen? Das funktioniert nie!“ „Lass es uns ausprobieren.“ Caote sprang auf. Frauen! Ja, das war der Beweis! Caote musste eine Frau sein. Nur sie konnten so irrational, so begeisterungsfähig für eine absolut aussichtslose Sache sein. „Du bist auch nicht gerade als Meister vernünftigen Handelns bekannt“, raunte die Esche. Coyote wollte protestieren. Er zweifelte gerne an vielem, aber selten an sich. „Danke für das Kompliment!“, rief Caote. „Die Esche glaubt, dass wir es schaffen!“ In Coyotes Kopf drehte es sich. Bevor ihm etwas zu sagen einfiel, hieß ihn der Baum streng, nun zu gehen.

Coyote trottete davon, Caote hüpfte hinter ihm her. Ihre gute Laune ging ihm manchmal mächtig auf die Nerven. Er schlich dahin, Stunden über Stunden, und dachte über die verflixte zweite Aufgabe nach. Plötzlich hielt er inne. „Ich hab’s! Wir gehen in die große Stadt“, sagte er bestimmt. „Wir suchen bei den Menschen.“

Am nächsten Tag erreichten sie das Zentrum einer riesigen Stadt. Coyote blieb vor einem Gebäude stehen, das mindestens fünfmal so hoch war wie die Esche. Darin, so wusste er, hielten sich die Menschen acht Stunden oder länger auf, bevor sie in ein Auto stiegen, zu einem Haus fuhren, dort übernachteten und am nächsten Morgen wieder mit dem Auto zu diesem Gebäude gelangten. Wenn sie das einmal nicht taten, nannten sie das Wochenende oder Urlaub. Es konnte schon mal vorkommen, dass die Menschen dann zu einem Wald kamen. Aber nicht zu dem der Esche. Denn durch diesen Wald führte kein Premium-Wanderweg und keine E-Bike-Route, es gab dort keinen Klettergarten und kein Waldbaden. In diesem Gebäude würde er die 375 besagten Erdwesen finden. Caote folgte ihm, ohne Fragen zu stellen.

Coyote verwandelte sich schnell in einen Menschen, einen sehr attraktiven jungen Mann in piekfeinem Anzug. Er blickte auf Caote. „Ich komme so mit“, sagte diese fröhlich. In ihrer großen Tasche klirrte es. „Gläser“, erklärte sie. „Zur Geruchsaufbewahrung.“ Die beiden gelangten dank Coyotes adrettem Äußeren ungehindert in das Bürogebäude. „Lass uns gleich hier anfangen“, sagte Coyote und steuerte auf eine Tür zu.

Caote wollte draußen warten und sah sich neugierig um. Eine Frau in einem superschicken Business-Kostüm lief an ihr vorbei. Ein Duft von Blumen wehte hinter ihr her. „Warten Sie“, rief Caote und zog ein Glas aus der Tasche. Die Frau blickte sich um. „Darf ich mir etwas von Ihrem Geruch abfüllen?“, fragte Caote mit ihrer Kopfbedeckung aus allerlei Vogelfedern, einem weiten Rock aus bunten Streifen, einer strahlend weißen Bluse unter einer speckigen Weste und ohne Schuhe an den Füßen. „Gehen Sie, oder ich rufe den Sicherheitsdienst“, sagte die Frau und klapperte auf ihren sehr hohen Schuhen davon.

Da hörte Caote ein lautes Poltern und einen Schrei. Sie riss die Tür auf, hinter der Coyote verschwunden war – und Coyote purzelte über sie. Die Gläser schlugen auf die Marmorplatten und zersplitterten in tausend Stücke. Coyotes Menschengesicht sah ganz und gar nicht mehr attraktiv aus. Der Mann, den Coyote beim Pinkeln auf der Toilette angesprochen hatte, hatte ihm statt einer Geruchsprobe seines Urins einen Schlag ins Gesicht gegeben. Die beiden verhinderten Geruchssammler sahen zwei mürrisch blickende Männer auf sich zukommen. „Wir gehen schon“, rief Caote und rannte mit Coyote aus dem Gebäude.

Die Stadt war laut, schmutzig, groß – viel zu groß für einen Coyoten und ein Wesen unbestimmter Herkunft, das aussah wie ein sehr wildes Hippiemädchen. Hungrig setzten sich die beiden auf den Bürgersteig. Ein Klimpern holte Coyote aus seinen trüben Gedanken. Jemand hatte ihnen Geld vor die Füße geworfen. Caote zwinkerte Coyote zu. Nach einer Weile hatten sie genug. Coyote kaufte sich beim Türken eine Lammkeule, „eine besonders fleischige für einen besonderen Kunden“ wie der Verkäufer bemerkte, und Caote bestellte beim Italiener eine Pizza zum Mitnehmen, „mit allem drauf, was Sie haben“. Der Pizzabäcker wünschte ihnen einen schönen Tag und nannte ihnen einen Park zum Picknicken. Etwas versöhnt mit den Menschen fanden Coyote und Caote eine Wiese und ließen es sich schmecken.

Die Lammkeule war ein Gedicht, und Coyote versuchte nicht daran zu denken, wie er den Geruch von 357 Erdwesen zur Esche bringen sollte. Caote schien sowieso sehr selten zu denken. Sie biss in ein Stück Pizza und strahlte ihn an mit den Augen eines Kindes. „Denken und Nachdenken ist zweierlei“, sagte sie mit der Stimme einer alten weisen Frau. Nicht weit weg von ihnen wälzte sich ein Hund genüsslich im Gras. Ein kleines Mädchen lief zu ihm und tat es ihm gleich. Sie gluckste und kicherte glücklich. „Steh sofort auf!“ Eine Frau war herbeigerannt und zog das Kind auf die Beine. „Du machst dich ja ganz schmutzig!“ Das Mädchen weinte und schrie. Caote beugte sich zum Gras und schnupperte. Dann schaute sie Coyote verschmitzt an. „Riech mal“, sagte sie. Coyote fuhr mit seiner Schnauze über den Boden. „Riecht nach Erde.“ „Genau!“, rief Caote. „Nach mindestens 375 Erdwesen!“ Caote – und Coyote, als er endlich verstand – ließen sich in die Wiese fallen und wälzten sich ausgelassen. Sie kugelten neben-, über- und untereinander, glucksten und kicherten, und alle unnützen Gedanken wirbelten durcheinander und lösten sich auf. Als sie schließlich aufstanden, rochen sie nach mindestens 375 Erdwesen – nach 12 Gänseblümchen, 5 Hunden, 17 Kaninchen, 56 Gundelreben, 85 Regenwürmern, 21 Äpfeln, drei Buchen, fünf Haselnussträuchern, 68 Spinnen, 25 Pilzen, 74 Käfern, 4 Menschen…

Frühlingsbegegnung

Freude trifft Freude

Wenn Krokus und Hummel sich begegnen, berühren sie die Herzen und zaubern ein Lächeln ins Gesicht. Die Blumen strahlen Freude, die Hummeln summen sie – die Freude über die wiederkehrende Wärme. Sie sind beide Kinder der unbeschwerten Natur. Die Krokusse wachsen am liebsten auf ungedüngten Almwiesen, die Hummeln genießen den Nektar des Seins.

Mancher Dichter rühmte den Krokus als Lichtgeschenk des Himmels. Ein Farbengeschenk ist er zudem in seiner leuchtenden Buntheit. Mit den Farben lockt er, von seinen Blüten zu naschen. Die Hummel lässt sich gerne beschenken. Ihr Anblick weckt die Sehnsucht nach der Fülle des Sommers. Doch gerade die Hummel lehrt uns, auf das Wunder des Jetzt zu vertrauen.

Coyote in einer ver-rückten Welt

Es war einmal an einem Tag, an dem die eisigen Lüfte des Winters in ihre Heimat gen Norden zogen und die Vögel den Frühling aus dem Süden mitbrachten. Da schlich Coyote missmutig über die sanftgrünen Hügel. Je mehr die Sonne seinen Pelz wärmte, umso grimmiger knurrte er seine strahlende Umgebung an. Er war schlecht gelaunt. Sehr schlecht gelaunt. Von Natur aus gab er sich nie geschlagen. Selbst wenn jemand dabei war, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen, fand er einen Ausweg. Doch nun hätte er nichts dagegen gehabt, in eine tiefe Schlucht zu stürzen und eben mal nicht davonzukommen. „Mein Leben hat keinen Sinn mehr!“, jaulte er selbstmitleidig.

Die Zeiten, da er den Menschen geholfen hatte, sich auf der Erde zurechtzufinden, da er ihnen den Umgang mit Messer und Gabel gelehrt und sie mit seinen Späßen zum Lachen oder zum Fluchen gebracht hatte, waren längst vorbei. Einst war er der Mächtigste, Trickreichste, Respektloseste, Listigste, Fieseste, Überlebens-künstlerischste. Doch neben den neuen Verrücktheiten der Menschen machten sich seine Späße wie alberner Kindergeburtstagsklamauk aus. In seiner Not war er mit einem großen Schiff über das große Meer gefahren, obwohl er Wasser hasste, in der Hoffnung, auf der anderen Seite des Ozeans noch einen Blumentopf gewinnen zu können. Pustekuchen! Hier war nichts besser.

Er kickte mit der rechten Vorderpfote gegen einen Baumstamm. „Autsch!“ Wütend stürzte er sich auf den Baum. „Warum lässt du die Menschen sich nicht einfach austoben?“, fragte der Baum den tobenden Coyote, „entweder kommen sie zur Vernunft oder sie verschwinden. Ganz einfach.“ „Was?“, rief Coyote. „Ich bin doch kein Baum, der reglos zuschaut. Ich habe einen Job zu erledigen!“ Er stieß wieder die Pfote gegen den Stamm. „Autsch!“ „Ist das dein Job?“, höhnte der Baum, „dir die Pfote zu zertrümmern?“ „Genau!“, schrie Coyote. Er erklärte diesem Baum der so genannten Alten Welt, dass genau dies sein Job war, um den Menschen zu zeigen, was ihnen passierte, wenn sie sich mit einem Baum anlegten. Als der Baum einwandte, er sehe keinen Menschen, der zuschaue, brüllte Coyote: „Genau! Genau das ist mein Problem. Es schaut mir kein Mensch mehr zu.“ Keiner nahm seine Lektionen mehr ernst. Der letzte, bei dem Coyote es versucht hatte, hatte einen Axt genommen und den Baum einfach umgehauen. „Mich hätte der Baum erschlagen, der Mensch spazierte wohlbehalten nach Hause“, jammerte Coyote. Er war ein nutzloser, nicht mal besonders alter Kojote, der sich völlig umsonst lächerlich machte.

Der Baum, der eine Esche war, ließ einen Sonnenstrahl durch sein lichtes Laubdach auf Coyote fallen. Der streckte sich und legte sich, müde geworden, der Länge nach auf die Erde. Die Schnauze in die Wiese gegraben, brummelte er: „Eigentlich ist es ein viel zu schöner Tag, um sich über die Menschen zu ärgern.“ Seine Unterlage war flauschig, und auf dem Ast über ihm zwitscherte eine Amsel ein federleichtes Frühlingslied. „Was soll’s?“, murmelte Coyote und schloss die Augen. Die Esche aber kitzelte ihn mit ihren vertrockneten Blättern in der Nase und sprach: „Du willst also, dass dir die Menschen wieder zuhören. Ich gebe dir drei Aufgaben.“ Coyote stöhnte. „Drei Aufgaben! Nie!“ Er wollte sich schon abwenden. „Was für ein Jammer“, sagte die Esche. „Menschen hören nicht mehr auf Kojoten, und Kojoten nicht mehr auf Bäume.“ „Seit wann hören Kojoten auf Bäume?“, schrie Coyote. „Seitdem dein Ururgroßvater sein Glied verloren hat, weil er nicht auf einen Baum hörte“, rief die Esche zurück. Coyote schluckte. Sein Glied zu verlieren, war ungefähr das Schlimmste, was einem Kojoten passieren konnte. „Okay“, sagte er ängstlich, „ich kann mir deine Aufgaben ja mal anhören.“

Die Esche schmunzelte. „Die erste Aufgabe lautet: Bringe mir drei Eicheln, die mindestens drei Mal drei Mondinnen kein Licht gesehen haben.“ Bevor Coyote etwas erwidern konnte, hieß der Baum ihn streng, nun zu gehen. Die nächste Aufgabe würde er bekommen, wenn er die erste gelöst hatte, gab die Esche ihm noch mit auf den Weg. Dann stand sie still vor ihm, als ob sie nie mit ihm gesprochen hätte.

Coyote schlich um den Baum herum. Da saß gegen den Stamm gelehnt eine… Er runzelte die Stirn. Eine junge Frau, ein Kind, eine Alte, ein junger Mann? Das Wesen hatte zwei Arme, zwei Beine, saß auf Menschenart, doch Coyote war sich keineswegs sicher, dass er einen Menschen vor sich hatte. „Hallo.“ Der Kojote sprang einen Schritt zurück. „Hallo“, antwortete er unfreiwillig krächzend. Die Frau war seltsam gekleidet. Sie trug eine Kopfbedeckung aus allerlei Vogelfedern, einen weiten Rock aus bunten Streifen, eine strahlend weiße Bluse unter einer speckigen Weste und einen zerschlissenen Lederbeutel an einem geflochtenen Gürtel. An ihren Füßen trug sie nichts. Das war ungewöhnlich für einen Menschen zu einer Zeit, da sich der Frühling noch jung und kühl zeigte. Coyote war wieder er selbst. „Okay“, sagte er lässig, „ich will dich mal eine Frau nennen, obwohl…“ Er legte eine vielsagende Pause ein. „Okay“, antwortete die Frau ebenso lässig. „Ich will dich mal einen Kojoten nennen, obwohl…“ Sie wollte ihm nicht sagen, dass er aussah wie ein räudiger Hund. „Kannst es ruhig aussprechen. Ich sehe aus wie ein räudiger Hund“, sagte Coyote missmutig.

Die Frau sah ihn fragend an, doch sie fragte nichts. „Was tust du hier?“, fragte stattdessen Coyote. „Nichts“, antwortete die Frau. Coyote sah sie mit zusammengekniffenen Augen durchdringend an. Er sah nichts, was sein Misstrauen weckte. Sie sah ihn an wie ein kleines, unschuldiges Kind. Da kam Coyote ein Gedanke. „Du hast also nichts vor im Moment?“, fragte er. „Nichts“, sagte die Frau. „Ich könnte Hilfe brauchen“, sagte Coyote, „bei einem sehr spannenden Job.“ Die Frau sprang auf. „Gut!“, rief sie strahlend. Coyote zögerte. Vielleicht würde sie doch eher eine Last sein, überlegte er. Aber so naiv wie sie schien, konnte er sie für Arbeiten gebrauchen, die er selbst nicht machen wollte. Was immer das sein mochte. „Gut“, sagt er. „Dann lass uns gehen.“ Die Frau fragte nicht, wohin.

Coyote, der sich trotz zahlloser Rückschläge etwas auf seine Schlauheit einbildete, hatte bereits einen Plan. Die Menschen, wusste er, sammelten mitunter Vorräte. Warum sollten da nicht auch irgendwo drei Eicheln lagern, die mindestens drei Mondinnen kein Licht gesehen hatten? An einem Nachmittag trabte er durch eine Wohnstraße. Seine Begleiterin hüpfte an seiner Seite, schlug ein Rad vor ihm, schnupperte an einer gerade aufgeblühten Blume und zupfte ein paar Brennnesselblätter, die sie sich in den Mund steckte. Coyote fragte sich, ob sie ganz bei Sinnen sei. Doch eins stand fest: Sie war der fröhlichste Mensch – wenn sie denn ein Mensch war – den er je gesehen hatte.

Coyote roch, wenn ein Haus menschenleer war. So wurde er schnell fündig. Er schlich auf seine ganz eigene Art hinein und wunderte sich, dass die Frau – oder was dieses Wesen auch immer sein mochte – auch ihre ganz eigene Art hatte, durch verschlossene Türen zu gelangen. Das Haus war sehr sauber und sehr aufgeräumt. Die Frau sprang durch die Räume, nahm dieses in die Hand, staunte über jenes. Coyote seufzte. Wie ein kleines Kind. Vor einer schwarzen runden Dose verweilte sie länger. Coyote kam neugierig näher. „Alexa“, las die Frau laut die Worte auf der Dose. „Guten Tag. Was kann ich für dich tun?“ Coyote blickte sich erschrocken um. Auf der Dose blinkte ein Lichtring. „Alexa. Was ist das?“ „Bitte präzisiere deine Frage.“ Die Frau lachte. „Eine sprechende Dose. Oder ein Wesen von einem anderen Stern.“ Die Dose blieb stumm. „Was bist du?“, versuchte es Coyote. Schweigen. „Antworte mir!“ Stille. „Alexa“, sagte Coyotes Begleiterin. „Guten Tag. Was kann ich für dich tun?“ „Alexa“, wiederholte die Frau. „Stelle mir bitte eine Frage.“ „Du musst sie beim Namen nennen“, sagte die Frau zu Coyote. Der murrte widerwillig.

Aber vielleicht hatte Alexa tatsächlich Antworten. „Alexa“, hob Coyote an. „Was kann ich für dich tun?“ „Alexa. Wo finde ich drei Eicheln, die mindestens drei Mal drei Mondinnen kein Licht gesehen haben.“ „Tut mir leid, das verstehe ich nicht. Präzisiere deine Frage“ „Alexa. Drei Eicheln…“, begann Coyote. „Eine Eichel“, fiel im Alexa ins Wort. „Ein männliches Säugetier hat eine Eichel. Der Baum Eiche dagegen trägt zahlreiche Eicheln. Es sind ihre Früchte, die im Herbst…“ Alexa holte weit aus und ließ sich von Coyotes Einwänden nicht beirren. Der hielt sich bald verzweifelt die Ohren zu. „Du bist eine verdammte Klugscheißerin, Alexa“, platzte es aus Coyoteheraus. „Klugscheißerin“, wiederholte Alexa, „das ist eine ambivalente Wortschöpfung…“ „Nein!“ Coyote verzog sich winselnd in eine Ecke. „Du hast jetzt genug gequatscht. Alexa, stopp!“ Alexa verstummte. Coyote blickte seine mysteriöse Begleiterin, die gesprochen hatte, verwundert an. Zu ihm gewandt, sagte diese: „Lass uns gehen. Die Dame in der Dose wird mir langweilig.“ Sie sprang aus dem Fenster. Coyote hechtete hinterher – und landete im Gartenteich. Prustend zog er sich heraus. „Ihr Frauen macht mich fertig“, stöhnte er. „Ich glaube nicht, dass Alexa wirklich eine Frau ist, und ich…“ Coyote schüttelte sich heftig. Seine Begleiterin freute sich über die Dusche.

Coyote war nicht gut drauf. Überhaupt nicht gut drauf. Er hegte den Verdacht, dass die Esche ihn zum Narren gehalten hatte. Mürrisch tigerte er einen Parkweg auf und ab. Seine Begleiterin saß im Schneidersitz auf der Wiese. Vor ihr hüpfte ein Eichhörnchen, kam vorsichtig näher und strich mit seinem Schwanz über die Füße der Frau. Die flüsterte dem Tier leise ins Ohr. Coyote verdrehte die Augen. Er kam sich vor wie ein Narr, von Narren umgeben. „Was weißt du über Narren?“, fragte ihn die Frau. Diese… Sie machte ihn verrückt. Coyote raste gefährlich knurrend in Richtung Eichhörnchen. Schnatternd flüchtete das Tier auf den nächsten Baum. Dann rannte Coyote Zähne fletschend auf die Frau, das Kind, was immer dieses Wesen auch sein mochte, zu. Sie blieb ungerührt sitzen, Coyote prallte an ihr ab und landete unsanft auf der Erde. Als er aufblickte, sah er die junge Frau wie zuvor lächelnd auf der Wiese sitzen. „Was bist du eigentlich?“, schrie er. Die Frau sah ihn freundlich an. „Ich bin alles. Und ich bin nichts“, sagte sie ruhig. Coyote schüttelte sich. Doch die rätselhaften Worte brachten ihn plötzlich auf eine Idee: „Hast du was mit dieser Esche zu tun?“

Die Frau sprang auf und ging leichten Schrittes zum nächsten Baum. Kaum hatte sie ihren Rücken daran gelehnt, hüpfte das Eichhörnchen auf ihre Schulter. „Man könnte meinen, du bist ein Eichhörnchen! Was hast du mit dieser Kreatur zu tun?“, nörgelte Coyote. Die Frau sah ihn erstaunt an. „Das gleiche, was ich mit dir zu tun habe. Wir atmen die gleiche Luft, trinken das gleiche Wasser, die gleiche Sonne wärmt uns und die gleiche Erde ernährt uns.“ Sie neigte ihren Kopf zärtlich zu dem des Eichhörnchens. „Und diese Kreatur“, sagte sie an Coyote gewandt, „könnte dir helfen“. Coyote verstand nichts mehr, er ließ sich auf die Wiese fallen und kniff die Augen zusammen. In seinem Kopf drehte sich ein Karussell, auf dem sich das Eichhörnchen und die junge Frau fröhlich wild drehten. Etwas berührte seine Schnauze. Das Eichhörnchen saß direkt vor ihm. „Ich habe gehört, du bist auf der Suche nach drei ganz bestimmten Eicheln“, fiepte es. Coyote wähnte sich in einem irren Traum. Das Eichhörnchen aber sprang zu einer Stelle in der Wiese und grub mit seinen kleinen Pfoten ein Loch in die Erde. Und nacheinander legte es drei Eicheln vor Coyotes Schnauze. Das Eichhörnchen zwinkerte dem Kojoten zu. „Drei Mal drei Mondinnen haben sie kein Licht gesehen…“

Mit Krähen-Kraft ins neue Jahr

Mit gezücktem Schwert rennt ein Mensch wütend gegen eine Steinmauer. Zwei Krähen, auf einem Baumstamm oben auf der Mauer balancierend, schauen ihm amüsiert zu. Im neuen Jahr möchte ich immer öfter wie eine dieser Krähen die Welt betrachten.

Das Bild gehört zu einem Tarotset. Die Mauer hat sich der Mensch selbst geschaffen und fühlt sich nun gefangen. Er versucht, zu entkommen – mit Mitteln, die ihn vermutlich eher zerstören als dass er die Mauer einschlagen könnte. Ein Teil der Schwerter liegt schon zerbrochen am Boden. Der Mensch verliert im Kampf seine Kraft und erreicht nichts. Würde er einmal von seinem Anrennen ablassen, könnte sich ein Fenster auftun. Oder die Krähen ließen den Baumstamm hinuntergleiten, sodass der Mensch auf ihm nach oben und hinaus klettern könnte.

Die Krähen kennen die Verhältnisse in der Gefangenschaft, und sie sehen die Möglichkeiten außerhalb. Sie hüten als mächtige Krafttiere die Gesetze des Universums und sie wissen, wenn unser Handeln nicht mehr im Gleichgewicht ist mit diesen Gesetzen. Die Krähen-Kraft hilft uns dabei zu erkennen, wo wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher, wo etwas im Argen liegt. Die Vögel verschaffen sich einfach einen Überblick und schauen, welche neuen Wege jenseits der Mauern gegangen werden können. Sie sind wach, kreativ und sehr humorvoll.