Einst lebte ein Mann, der mit einem starken Körper, einem wachen Geist und einer einnehmenden Art gesegnet war. Er gewann die Liebe einer schönen, wissenden Frau, die den Respekt ihrer Gemeinschaft genoss. Sie lebten glücklich und dankten dem Universum jeden Morgen für die Geschenke des Lebens. Eines davon erfreute sie über die Maßen: Im Schoß der Frau wuchs ein neues Menschenkind heran. Als der Tag der Geburt nahte, rief die Frau ihre medizinkundige Mutter und hieß ihren Mann, das Dorf zu verlassen und erst wiederzukommen, wenn die Mondin ihre Bahn um die Erde vollendet haben würde. Der Mann packte seinen Beutel und machte sich auf zu seiner Schwester, die ihn freudig aufnahm.
Zur
bestimmten Zeit wollte der Mann im Dorf seiner Frau nach dem Kind
sehen. Doch die Großmutter empfing ihn mit Tränen in den Augen. Die
Göttin hatte Kind und Frau bei der Geburt zu sich genommen. Der Mann
tobte, blind vor Schmerz und erschlug in seiner Raserei die Mutter
seiner toten Frau. Als dieser im Niederfallen ein funkelnder Kristall
aus der Rocktasche fiel, hob der Mann den Stein auf und warf ihn
gegen eine große Buche. Der Baum jedoch öffnete sich dem Kristall
und nahm ihn in seinem Inneren auf.
Der
Mann floh aus dem Dorf. Er strich fortan durch die Wälder, jagte und
sammelte, was er für ein karges Leben brauchte und nährte mit
seinen Gedanken den Hass in ihm. Um sein Herz legte sich ein
undurchdringlicher Panzer. Gelegentlich traf er auf einen anderen
Mann, mit dem er am Feuer Pläne schmiedete. Es dauerte nicht lange,
da hatte er eine ansehnliche Truppe beisammen. Die Männer träumten
von Macht, Ruhm und Reichtum, und der Mann, der die Mutter seiner
Frau erschlagen hatte, wurde zu ihrem Anführer auserkoren.
Gegen
die Mordlust der Bande war kein Kraut gewachsen. Die Menschen fanden
kein Mittel, sich ihr entgegenzustellen, es sei denn, sie besudelten
ihre eigenen Hände mit Blut. So machte sich der Mann mit seinen
Schergen die Menschen untertan und wurde König eines riesigen
Reiches. Als Gemahlin wählte er sich die Schwester seiner ersten
Frau.
Da
ihm niemand seiner Leute widersprach und er sich den Göttern gleich
fühlte, wollte er sich seinen sehnlichsten Wunsch erfüllen: das
auszulöschen, was ihm den größten Schmerz bereitet hatte. Es
dauerte nicht lange und die Tödin stand an der Schwelle des
Schlosstores. Der König empfing den Gast mit allem Pomp, ließ die
leckersten Speisen auffahren und abertausende Goldmünzen aufhäufen.
Die Tödin ging achtlos an allem vorbei.
„Was ist dein Anliegen?“, fragte sie den König direkt.
Der König zögerte nicht lange: „Ich will, das du von der Erde verschwindest. Du hast genug Leid angerichtet.“
Die Tödin hob schon an lauthals zu lachen, da blickte sie in die leeren Augen des Königs. So leer wie die Augen aller, denen sie auf dem Weg hierher begegnet war.
„Gut“, sagte sie. „Ich werde von der Erde verschwinden, solange das Jahr braucht, um 17 Mal seine Bahn zu ziehen. Doch ich kann nicht ohne meine Schwester gehen.“
Erleichtert erhob sich der König von seinem Thron, seine Macht schien unendlich und er wollte großzügig sein.
„Nimm mit, wen du willst“, sagte er. „Es sei dir gewährt.“
Die Tödin verbeugte sich vor dem König und verschwand aus dessen Palast und von der Erde. Am gleichen Tag gebar die Frau des Königs eine Tochter. Zur selben Stunde brachten 12 weitere Frauen im Königreich Kinder auf die Welt.
Die
Jahre vergingen, und die Menschen zeigten fortan nicht einmal mehr
Spuren des Alterns. Ja, selbst die Blätter an den Bäumen behielten
ihre Farbe und die Blüten an den Blumen wollten nicht mehr abfallen.
Einzig für die Königstochter tickte die Lebensuhr. Sie wuchs heran,
war schön wie die gelben Sonnenblumen, von wachem Geist und
empfindsamem Gemüt und wild wie die Katzen in den Wäldern. Der
König tat sich schwer mit ihrem Charakter und erschreckte sich über
ihr Heranwachsen. Sie blieb sein einziges Kind. Den Frauen des
Reiches war es aus unerfindlichen Gründen versagt, schwanger zu
werden.
Die Gemahlin des Königs indes wurde trauriger und trauriger und zog sich vom Leben am Hofe zurück. Eines Tages packte sie ein Bündel und rief ihre Tochter zu sich.
„Ich werde fortgehen“, sagte sie. Dann nahm sie die Hand der Tochter und öffnete ihre Faust, die einen kleinen Bergkristall umschlossen hatte.
„Er begleitete deine Großmutter, jetzt gehört er zu dir“, sagte die Mutter. „Wann immer du Hilfe benötigst, wird er sich dir öffnen.“
Sie umarmte ihr Kind und ging. Die Tochter weinte, da sie nun auf Geschwister, Spielkameradinnen und auch noch auf die Mutter verzichten musste.
Der
Vater ward immer missmutiger und fand bald keine Freude mehr an den
Dingen des Lebens. Desgleichen erging es seinen Untertanen. Die
Tochter litt mehr und mehr an der Freudlosigkeit ihrer Umgebung und
floh jeden Morgen in die Wälder. Eines Tages umhüllte sie besonders
große Traurigkeit, und sie ging zu dem kleinen Weiher an der Quelle.
Wie so oft erblickte sie ihr Spiegelbild im ruhigen Wasser und
wunderte sich, dass sie im Gegensatz zu allen anderen Menschen, die
sie kannte, zu altern schien. Nicht der Tod machte ihr Angst. Den
kannte sie nicht. Es machte ihr Angst, dass sie anders war als all
die anderen. Wütend sprang sie auf. Sie wollte wissen, was es damit
auf sich hatte.
Unwillkürlich griff sie nach dem Bergkristall, den sie in einem Beutelchen immer mit sich trug.
„Setz dich ruhig hin“, befahl ihr der Kristall. Die junge Frau tat wie ihr geheißen.
„Nun blicke in mein Innerstes. Dann blickst du voraus, zurück und in das Jetzt“, sprach der Kristall weiter.
Die Königstochter schaute in den Stein. Die Bilder rasten an ihr vorbei: das einer alten Frau, die in einem großen Kessel rührte, das von jungen Menschen, Frauen wie Männer, 13 an der Zahl, die freudig aufeinander zuliefen. Sie war eine von ihnen. Und das Bild zweier Schwestern, die über ihr in den Lüften schwebten, so als ob sie auf etwas warteten. In ihr wuchs eine Sehnsucht, die so groß war, wie nichts zuvor in ihrem Leben. Die Königstochter sank zu Boden und weinte bitterlich.
Von
den Tränen genährt wuchs zu ihren Füßen ein Holunderstrauch
empor. Er wurzelte tief in die Erde und wuchs hoch in den Himmel
hinein. Da sah die Königstochter, wie die beiden Schwestern, deren
Bild im Kristall an ihr vorbeigezogen war, sich auf einem der Äste
niederließen und hinabstiegen. Zugleich vernahm sie Pferdegetrampel,
und schon erblickte sie ihren Vater auf seinem Rappen.
„Was tust du hier, Tochter?“, fragte er. Doch als er der beiden Schwestern gewahr wurde, erschrak er, sodass er die Zügel anspannte, das Pferd sich auf die Hinterläufe stellte und den König abwarf. Der König fiel gegen einen Baum und brach sich das Genick.
„Vater, oh, Vater!“ Die Tochter sprang zu ihm hin und klammerte sich schluchzend an seine Schultern.
„Was habt ihr getan?“, schrie sie die beiden Schwestern an. „Ihr habt den Tod auf die Erde zurückgebracht!“
Die beiden Schwestern ließen die Königstochter um ihren Vater trauern. Als die junge Frau erschöpft von dem Toten abließ, sprach die eine der Schwestern: „Seine Zeit war gekommen. Das Jahr ist 17 Mal vorübergegangen, seitdem dein Vater mich von der Erde fortgeschickt hat.“
Da wusste die Königstochter, dass die Tödin vor ihr stand.
„Doch wer ist deine Schwester, die du damals mit der nahmst?“, fragte die junge Frau.
Die Tödin sprach: „Ich bin die Schwester Tod – und dies…“ Sie hielt die Hand der anderen. „Dies ist meine Schwester Leben.“
Die Königstochter verstand mit einem Mal. Und da liefen aus allen Richtungen die zwölf mit ihr Geborenen herbei. Sie umarmten sich, lachten und feierten gemeinsam die Rückkehr des Todes und des Lebens auf die Erde.