Berührbar

Alles an der Linde ist gut und schön, weich und süß. Sie ist der Baum des Glücks und des Wohlergehens. Sie verwöhnt die, die bei ihr weilen und steckt sie an mit ihrer grenzenlosen Liebe. Wer das Kämpfen gelernt hat, das Leisten und das Konkurrieren, dem können die schwülstigen Lobeshymnen auf diesen edlen Baum ziemlich auf die Nerven gehen. Doch ein Spaziergang an einem warmen Frühsommertag entlang einer Lindenallee, der betörende Duft des überfließenden Nektars in den Blüten, das Summen unzählbarer Bienen und das Spiel des überirdisch reinen Lichts mit den herzförmigen Blättern haben die Kraft, die härtesten Panzer zu schmelzen.

Die Sage um Siegfried, der den Lindwurm, den nährenden, schützenden Erddrachen tötet, um Unsterblichkeit zu erlangen, beschreibt die Qualität der Linde. Als Siegfried im Blut des Drachens badet, fällt ihm ein Lindenblatt zwischen die Schulterblätter. Damit behält der Held eine verwundbare Stelle. Er bleibt berührbar für die Liebe und verletzlich, was ihm die Sterblichkeit bewahrt und ihn einbindet in den Zyklus des Lebens.

Die Linde ist wie der Holunder mit der großen Göttin verbunden – mit der Holle, Freya, Aphrodite, Venus, die die Menschen lehrten, das Leben liebend zu leben. Der mächtige Baum mit seiner ausladenden Krone wurde immer als Versammlungsort geschätzt. Er war Richtstätte, da er sanft, doch klar die Wahrheit ans Licht zu bringen vermochte, er war Tanz- und Festplatz, ein Platz der Gemeinschaft und Kommunikation aller Art mitten im Dorf oder vor dem Hof.

Die einnehmende, zarte, liebe- und lichtvolle, entspannende und Herz öffnende Aura der Linde weist auf ihre enorme Heilkraft hin. Die Lindenblüten helfen bei Fieber, Husten und Erkältungskrankheiten, bei Kopfschmerzen, Stress, Nervosität und Schlaflosigkeit, bei Blähungen, Sodbrennen und Darmerkrankungen. Die Liste ist lang und immer unvollständig.

Alle großen Heilerinnen und Heiler aus der Welt der Bäume und Wildkräuter sind in ihrer Komplexität schwer zu erfassen. Nicht nur die einzelnen, wissenschaftlich nachweisbaren Wirkstoffe zeigen Wirkung. Ihre eigentliche Kraft entfaltet die Pflanze in ihrer geheimnisvollen Gesamtkomposition, die nicht bis ins Letzte seziert werden will und kann. Wen oder welche sie im Herzen berührt, für die oder den ist sie eine heilsame Begleiterin.

Lindenblütentee
Der Klassiker. Vor allem in der kalten Jahreszeit heiß getrunken, lindert er Erkältung, Husten, Schnupfen, Grippe und Bronchitis. Er macht Kopf und Brust frei und stärkt das Immunsystem. Mit dem Tee getränkte Kompressen helfen bei entzündeten und müden Augen.

Die Blüten mit den Flügelblättern sammelst du am besten an einem trockenen Vormittag im Juni oder Juli spätestens am vierten Tag nach dem Aufblühen. Ernte mit Bedacht und bedanke dich bei dem Baum, den Bäumen. Auf einem Leinentuch gut ausgebreitet kannst du die Blüten an einem luftigen, schattigen Ort trocknen. In dunklen, gut verschließbaren Gläsern nicht länger als ein Jahr aufbewahren.

Sommerbowle
ein bis zwei Tassen Blüten in einem Liter Apfelsaft drei bis fünf Stunden ziehen lassen, Saft von ein bis zwei Limetten dazugeben, nach Geschmack mit Mineralwasser auffüllen.

Zahnpulver
1 Teil Lindenkohle, 1 Teil Salbeiblätter, mörsern und mischen. Etwas davon auf die Zahnbürste geben und das Zahnfleisch sanft massieren. Reinigt, desinfinziert und stärkt das Zahnfleisch.

Das Leben ist ein Fest

Der Holunder strahlt im Licht des Lebens

Frau Holle im Holunder schüttelt ihre weißen Blüten-Sterne aus und zaubert einen unvergleichlich süß-herben Duft übers märchenhafte Frühlingsland. Sie hält die, die zwischen den Welten schweben, absturzgefährdet und fürs Neue bereit. Sie kennt keine Gegensätze – und keine Zeit. Vor allem die Zukunft, die zu beherrschende, gestaltende, ist ihr suspekt, denn sie liebt das Chaos, das Ungeplante, den Zustand sprühender Möglichkeiten jenseits beschränkter Vorstellungskräfte.

„Seelen, die zu sterben fürchten, sie werden niemals leben“: Die Zeilen aus einer deutschen Version des wunderschönen Liedes „The Rose“ könnten von der Göttin im Holunder stammen. Sie, die sich zeigt in den jungen weißen Blüten wie in den rot-schwarzen Früchten und dem knorrigen alten Baum, verbindet den Anfang mit dem Ende in der Spirale des Lebens. Sie lacht über die, die das farbenfrohe Sein auf der Erde zu einem Wettlauf mit der konstruierten Zeit und zum aussichtslosen Kampf gegen den Tod machen wollen. Das Leben als zu planende, zu sichernde, zu verlängernde Frist hat für sie keinen Wert. Das Leben der Frau Holle ist ein Fest voller überraschender Geschenke. Nichts und niemand ist ausgeschlossen. Auch der Tod feiert mit.

Mit der Holunderdame kannst du dich bekannt machen, indem du dich unter einen Strauch setzt und mit dem Duft der Blüten atmest. Mit einer Blütendolde kannst du auch dein Trinkwasser für den Tag aromatisieren.

Coyote in einer ver-rückten Welt, Teil 3

Die Höhle war kalt und modrig. Coyote zog sie der Welt draußen vor. Er rollte sich noch kleiner zusammen. Die Menschen waren ihm schnurzpiepegal. Sie wollten nichts von ihm wissen. Ja, neuerdings mieden sie ihn regelrecht. Dabei hatte er nun wirklich keine Ähnlichkeit mit einer chinesischen Fledermaus.

Er dachte nach – über das Leben und über den Tod, als plötzlich ein heller Strahl in sein dunkles Domizil drang. Coyote schnappte nach Luft. „Nein, bitte nicht, ich will noch nicht sterben!“, schrie er und legte eine Pfote an die Brust. „Weiteratmen“, rief ihm eine fröhliche Stimme entgegen. Caote, seine mysteriöse Begleiterin, lugte in die Höhle. Coyote erkannte sie an ihrer Kopfbedeckung aus allerlei Vogelfedern, die sie sich in die Stirn gezogen hatte. Den Rest des Gesichts verdeckte eine dieser Masken, mit denen sich die Menschen zurzeit vor ihrer Umwelt verbargen. Caotes Maske war sehr hipp. Zwei kleine Seehunde spielten darauf mit einem Ball voller lustiger kleiner Noppen.

Caote nahm die Maske ab und holte tief Luft. „Ich habe mich ein bisschen unter den Menschen umgeschaut“, sagte sie. „Was du gerade machst, nennen sie Quarantäne.“ Caote kratzte sich unter ihrem Hut. „Ist vielleicht wie bei dir ein Kommunikationsproblem“, sagte sie. „Du willst keinen Kontakt zu Menschen, die Menschen wollen keinen Kontakt mit einem Virus.“ Caote stellte ihren abgewetzten Rucksack vor Coyote und zauberte Lammkoteletts heraus. Coyote machte sich über das Fleisch her und war für wenige Minuten sehr zufrieden.

Kaum hatte Coyote den letzten Bissen hinuntergeschluckt, sprang Caote auf. „Mir scheint, es hat mich gerade eine Nachricht der Esche erreicht“, sagte sie und lauschte in den Wind. Coyote verdrehte die Augen. Seine Begleiterin hörte öfter mal Stimmen – nicht nur die von Bäumen. „Sie fragt, worauf du noch wartest.“ Coyote seufzte und dachte im Stillen: Ich habe keinen Mumm mehr in den Knochen. „Hab‘ ich der Esche auch gesagt“, sagte Caote schulterzuckend. Coyote knurrte grimmig, stieß sich blitzschnell vom Boden ab, fuhr seine Krallen Richtung Caote aus und stürzte sich auf sie. Gewandt befreite sich Caote aus dem Griff der Pfoten und rannte davon. „Hey, da geht noch was, Alter“, rief sie Coyote zu. Nach einer wilden Verfolgungsjagd ließen sich beide lachend in eine Frühlingswiese fallen. Da wusste Caote, dass sie der Lösung ihrer dritten Aufgabe schon sehr nahe waren.

Zwei Aufgaben der Esche hatte Coyote mit Caotes Unterstützung bereits erfüllt, und doch fühlte er sich seinem Ziel keinen Schritt näher gekommen. Die Menschen wollten von seinesgleichen nichts mehr lernen. Die Verrücktheiten und Anwandlungen von Größenwahn des Kojoten waren nichts im Vergleich zu ihren. „Aber du kennst im Gegensatz zu ihnen die Tricks, aus dem Schlamassel auch wieder herauszukommen“, gab Caote zu bedenken. Coyote war es immer noch ein Rätsel, wie ihm die Aufgaben eines alten Baumes dabei helfen sollten, dass die Menschen ihn wieder beachteten. „Die dritte Aufgabe hört sich so an, als sei sie von einem fernen Stern gechannelt“, sagte er höhnisch. „Finde heraus, wonach sich eine winzige Maus und eine kleine Fee ebenso sehnen wie ein großer Junge und eine alte Frau“, lautete sie. „Ich hasse diesen esoterischen Mist“, brummte Coyote. Caote lachte: „Ich auch!“ Doch sie ahnte, dass die alte Esche eine echte Magierin war. Coyote irgendwie auch. So machten sie sich also auf den Weg.

Coyote trottete neben Caote durch die Straßen, als eine junge Frau ohne ihn zu sehen schnurstracks auf ihn zulief. „Pass auf!“, rief Coyote, da fiel die Frau schon über ihn drüber. Ihr Smartphone flog durch die Luft und landete in Caotes ausgestreckter Hand. „Hui, gut gefangen.“ Die Frau atmete erleichtert durch und rappelte sich auf. Dann versuchte sie zu verstehen, wen sie vor sich hatte. „Whow“, rief sie, „ein Kojote und ein Hippiemädchen!“ Sie tippte schnell auf ihrem Smartphone. „Seid ihr auf Instagramm? Ich möchte dich als Follower, Kojote. Suuuper!“ Der Kojote und das vermeintliche Hippiemädchen sahen sich verständnislos an. „Follower?“, fragte Caote. „Verehrer, heißt das“, flüsterte Coyote und checkte, ob die junge Frau ihm gefallen könnte. Mhm, sie war ein Mensch. Ein Mensch, wie sich bald herausstellte, der zu einer „krassen Community“ gehörte. Caote fand sie schrill und sehr einsam. Coyote wurde zum Follower, und die junge Frau eilte freudig davon.

Die große Stadt war ungewöhnlich leer. Am Rande einer Bahnunterführung saß eine alte Frau auf ihrem Rollator und fütterte Tauben. Ausgelassen sprang Coyote in die Gruppe der Vögel, die wild aufflatterten und davonflogen. Die alte Frau begann zu weinen. „Das sind meine Freunde, meine Freunde“, schluchzte sie leise. Coyote wollte sich entschuldigen. Die Frau zitterte heftig vor Angst, als er sich ihr näherte. „Der tut nichts“, sagte Caote, „der will nur gestreichelt werden.“ Schelmisch grinste sie Coyote zu, der sie am liebsten erwürgt hätte. Doch die alte Dame blickte ihn so traurig an, dass Coyote sich wie ein braver Hund neben sie setzte und sie mit seiner Schnauze anstupste. Die alte Dame kraulte ihn und erzählte den beiden von ihren Kindern und Enkelkindern, die auf der anderen Seite des Erdballs lebten.

Nachdenklich und ohne Ziel ließen sich der Coyote und Caote weiter treiben. „Was bist du denn für ein haariges, hässliches Biest?“ Ein schon sehr großer Junge stellte sich ihnen in den Weg. In seinen Händen hielt er einen Fußball, den er Coyote mit voller Wucht gegen die Nase warf. Coyote fletschte die Zähne, da warf sich Caote dazwischen. „Was bist du für eine dämliche Zicke?“, schrie der Junge. Caote erklärte ihm in sehr schönen Worten, warum sie keine dämliche Ziege und Coyote kein hässliches Biest war, nahm den Ball, jonglierte ihn gekonnt mit dem Fuß und köpfte ihn zu dem Jungen. Die drei kickten gemeinsam, bis es dunkel wurde.

Coyote und Caote betrachteten die volle Mondin. Es war sehr still. Da flitzte eine Maus an ihnen vorbei, gefolgt von einem kleinen Zwerg. Eine gitzernde Fee schwebte dahin, und ein Wesen, für das sie keinen Namen kannten, stapfte über die Wiese. Sie waren alle in dieselbe Richtung unterwegs. „Lass uns mal schauen.“ Caote war neugierig. Wenige Schritte entfernt saß ein junger Mann mit gekreuzten Beinen auf einer Matte. Um ihn herum hatten sich der Zwerg, die Maus, die Fee und das unbekannte Wesen versammelt. Sie sahen den Mann gespannt an, doch der sah sie nicht. Seine Augen waren geschlossen. „Die Menschen nennen das meditieren“, flüsterte Caote. Coyote setzte sich neben die Maus, Caote neben den Zwerg. So saßen sie einträchtig beieinander. Plötzlich stöhnte der junge Mann laut auf und schlug mit den Fäusten auf den Boden. Die Maus, die Fee, der Zwerg, das unbekannte Wesen, Caote und Coyote flitzten erschrocken davon. „Verdammt! Ich sehe nichts!“, rief der junge Mann, vergrub den Kopf zwischen den Armen und schimpfte mit sich selbst.

„Das wird mir langsam alles zu ernst!“ Coyote lief missmutig im Kreis. „Ich will Lammkoteletts essen und schmutzige Witze erzählen“, rief er. „Ich will Musik machen und tanzen“, gab Caote zurück. „Ich will eine Kojotin lieben“, erwiderte Coyote. „Ich will eine Frau küssen und einen Mann in den Arm nehmen“, sagte Caote. „Ich will mit einer Maus einen Baum hochjagen.“ „Und ich mit einem Kind auf einen Baum klettern.“

„Und ich will, dass ihr zu mir kommt, aber nicht allein!“ Coyote und Caote sahen sich fragend um. „Wer hat das gesagt?“ Caote lächelte. „Die Esche!“ So luden die beiden Aufgaben-Löser*innen ein paar Erdenbewohner ein, mit ihnen die Esche zu besuchen: die junge Frau von Instagramm, die alte Dame mit ihren Tauben, den fußballspielenden Jungen, die Maus, die Fee, den Mann auf der Yoga-Matte, den Zwerg und das Wesen, für das sie noch keinen Namen kannten. Wer sich ihnen auf ihrem Weg anschließen wollte, war herzlich willkommen. Sie begegneten dem Eichhörnchen, das für Coyote drei Eicheln ausgegraben hatte, dem Mitbewohner der Klugscheißerin Alexa, dem kleinen Mädchen, das sich gerne in der Wiese wälzte, dem Lieblingspizzabäcker und dem Lieblingstürken, dem Mann in piekfeinem Anzug und der Frau im superschicken Business-Kostüm, die Coyote und Caote eine Geruchsprobe verweigert hatten. Sie alle gingen mit ihnen.

Als sie die alte Esche in ihrem Wald erreichten, staunten die Menschen, Tiere und anderen Wesen nicht schlecht. Die köstlichsten Speisen und Getränke waren unter dem lichten Blätterwerk des Baumes ausgebreitet. Jede und jeder fand einen passenden Platz, und sie feierten miteinander das, wonach sie sich alle sehnten: Gemeinschaft.

Mutig dem Neuen begegnen

Elfen und Feen fühlen sich bei der Lärche heimisch

Die Lärche will frei atmen. Sie wächst am liebsten in luftigen Höhen und strebt zum Licht. Das geht nicht ohne stabile Basis. Tief verwurzelt in der Erde trotzt sie den heftigsten Stürmen, ohne festzuhalten, was loslassen will. Die Lärche ist Symbol für Wagemut und Erneuerung.

Allein durch ihre Daseinsformen sind Bäume als Orte der Ruhe und Kraft zu erkennen. Mich lockte die Lärche. Dabei lädt die schrundige Borke nicht gerade zum Anschmiegen ein. Sie fordert vielmehr den nötigen Respekt. Die Lärche, wie alle Nadelbäume, hütet einen wertvollen Schatz: Ihr Harz ist ein begehrtes Heilmittel. Ihr Holz ist hart und wasserbeständig wie das der Eiche. So bauen die Venezianer auch auf die Stärke der Lärche.

Im Frühling erfreut die Lärche besonders durch die lustig-wilden Pinsel aus den weichen, zartgrünen Nadeln und die purpurroten neuen Zäpfchen. Im Sommer grün, leuchten die Nadeln im herbstlichen Sonnenlicht atemberaubend goldgelb. Anders als andere Nadelbäume wirft die Lärche ihre Blätter ab. Die Zapfen fallen nach vielen Jahren erst mit den Zweigen von den Ästen.

Die Lärche bietet vielen Wesen Lebensraum, Schutz und Nahrung. Vögel, Mäuse und Eichhörnchen machen sich bei ihr ebenso gerne heimisch wie Elfen und Feen. Viele Sagen ranken um Waldfrauen und weibliche Hausgeister, die wohlgesonnenen Menschen zur Seite stehen – Müttern bei schweren Geburten, Familien bei der Pflege der Kinder, Wanderern beim Finden des Weges. Die Elfen und Feen, die an Lärchenplätzen wohnen, helfen den Menschen, solange diese in Einklang mit den Gesetzen der Natur leben und belohnen sie reich.

Das Harz der Lärche wirkt auf körperlicher Ebene durchblutungsfördernd, wundheilend, desinfizierend, schleimlösend und wird zu einer heilsamen Salbe verarbeitet. Ganz einfach ist es, das Harz zum Räuchern zu verwenden. Mit dem Rauch lässt sich Altes verabschieden und Neues begrüßen. Die Räucherungen sind wärmend, entkrampfend, reinigend, stärken die Atmungsorgane und helfen, gestaute Energien wieder zum Fließen zu bringen. Und sie verbinden uns mit den Kräften der Natur, die um uns herum und in uns wirken.

Vielleicht magst du jetzt selbst ausziehen, um die Lärche oder einen anderen Baum zu erforschen, zu erspüren, wahrzunehmen, dich mit ihm auszutauschen. Du kannst damit beginnen, dich an oder neben einen Baum zu setzen und nichts mehr zu denken.

* Wenn du das Lärchenharz sammelst, achte darauf, dass du es nur von verletzten Bäumen nimmst und dass du die Wunde des Baumes dabei nicht aufreißt. Brich vorsichtig etwas von dem Harz ab, das an der Oberfläche schon ausgehärtet ist. Frag den Baum vorher, ob du dir etwas nehmen kannst und bedanke dich danach. Harz ist am besten auf einem Stövchen zu räuchern. So kann sich der feine Duft langsam verbreiten.

Das Neue ist schon da

Die Kätzchen der Birke überwintern

Sie zeigen sich schon im Hochsommer, doch erst jetzt im Herbst, wenn die Tage kürzer und kälter werden, bemerke ich sie, weil sie so gar nicht in die Jahreszeit zu passen scheinen: die frischen Kätzchen von Haselstrauch und Birke. Zahlreich hängen sie an den Zweigen zwischen sich verfärbenden und abfallenden Blättern. Genauso wie die weiblichen Blüten in den Knospen scheren sie sich nicht um den nahenden Frost und haben sich entschieden, im Freien zu überwintern.

Die Knospen aller Bäume wachsen spätestens im August. Für mich sind sie ein zutiefst berührendes Symbol. Was auch geschehen mag, das, was ist, gebiert das, was sein soll, lange bevor es wachsen kann. Der Kreislauf des Lebens hat gerade dann, wenn sich die Natur zurückzieht, die Chance und die Gewissheit, sich weiterzudrehen.

Die Knospe enthält den gesamten Zweig mit Blättern und Blüten, der sich im nächsten Jahr entfalten will. Das zarte Neue braucht Schutz. Damit die Knospe nicht erfriert, zieht der Baum die Flüssigkeit aus ihr ab und lagert eine Zuckerlösung ein. Dann ruht die Knospe für viele Monate, um sich schließlich in der Frühlingssonne zu öffnen.

Im Blüten-Sternenkleid

Frau Holle im Holunder trägt ihr leuchtend-weißes Sternenkleid. Verwandlung ist ihre Kunst, die Liebe ihre Leidenschaft. Der Strauch und die in ihm wohnende Göttin geben ihre Heilkraft dem und derjenigen, der und die bereit ist, aus der Klarheit des Herzens heraus bedingungslos zu handeln. Wie Goldmarie im Märchen.

Frau Holle und ihr Hollerbusch dienen dem Leben ganz und gar, ohne wenn und aber, sie verbinden schwarz und weiß, das Werden mit dem Vergehen, sie kennen keine Gegensätze, sondern nur Ergänzungen wie männlich und weiblich. Die zarten, in den Himmel weisenden Blüten des Frühlings gehören zu ihnen wie die satten, sich zur Erde beugenden schwarzen Beeren des Herbstes. Alles hat Platz, wenn es aus dem Herzen kommt.

Wildpflanzen lassen uns in symbolträchtigen Bildern schwelgen, die auf ihre Heilkunst hinweisen. Sie wirken nie nur auf der körperlichen Ebene, sie sind Nahrung und Medizin auch für Geist und Seele.

Um den Geschmack von Holunderblüten kennen zu lernen, kannst du einfach eine Blütendolde zusammen mit einer Scheibe Zitrone in einen Krug mit Trinkwasser geben, kurz ziehen lassen und das abgeseihte Wasser trinken. Oder du pflügst ein paar Blüten und zerkaust sie langsam.

Aus den Blüten lassen sich außer starker Medizin allerlei Leckereien machen: Holundersirup, Marmelade, Holundermilch, Küchle, Limonade, Sekt. Bevor du die Blüten pflügst, überlege, was du damit machen willst. Denn auch die Beeren, die an den nichtgepflückten Dolden wachsen, sind für uns Menschen – und für zahlreiche Vogelarten – wahre Kraftpakete.

Coyote in einer ver-rückten Welt, Teil 2

Coyote war ausnahmsweise sehr zufrieden mit der Welt. Die Sonne schien seit Tagen warm vom Himmel. Er hatte die drei Eicheln, die drei Mal drei Mondinnen kein Licht gesehen hatten mit Hilfe eines Eichhörnchens gefunden. Und an seiner Seite ging eine ganz brauchbare Helferin – dieses seltsame Wesen, weder Kind noch Frau noch Mann und doch alles zusammen, das ihm irgendwie zugelaufen war. Er kannte mittlerweile seinen Namen: Caote – „mit C“, wie es, er, sie augenzwinkernd ergänzte. Coyote hatte die Stirn gerunzelt. Coyote, Caote. Er knurrte leicht, sagte aber nichts. Immerhin konnte er es, er, sie nun ansprechen. „Sag ,sie‘. Ist einfacher“, ergänzte Caote.

„Pass auf, Caote!“, rief Coyote, „die Eicheln fallen dir noch aus der Tasche!“ Caote hatte wieder einmal ein Rad gedreht und war aus dem Stand über Kopf gesprungen. Sie lachte nur und rief übermütig: „Die Esche wird die Eicheln schon bekommen. Keine Angst, du wirst dein Glied behalten.“ Sie hatten an einem Abend am Feuer gesessen, und Lagerfeuer machten Coyote immer sehr sentimental und sehr gesprächig. Da hatte er Caote von dem verlorenen Glied seines Ururgroßvaters erzählt, der nicht auf einen Baum gehört hatte. Coyote hatte also in der Tat ein bisschen Angst, ohne die gewünschten drei Eicheln vor der Esche aufzutauchen. Caote wusste jetzt auch, was es mit den Eicheln auf sich hatte. Sie wusste, dass Coyote aus seiner Heimat in dieses Land gekommen war, weil die Menschen ihn, den größten Überlebenskünstler aller Zeiten, nicht mehr beachteten. Darauf hatte eine Esche ihm angeboten, drei Aufgaben zu lösen, wollte er wieder wertgeschätzt werden.

Coyote und Caote erreichten den Wald und kamen zu besagter Esche. „Whow“, rief Caote, „das ist eine mächtige alte Dame!“ Coyote zerrte an ihrem Arm. „Beleidige sie bloß nicht“, rief er. „Danke für das Kompliment“, sagte die Esche. Coyote sah verwundert von der Esche zu dem seltsamen Wesen und wieder zurück und beschloss, nicht verstehen zu müssen, warum jemand gerne alt genannt werden wollte. „Ich habe die Eicheln“, sagte er stattdessen stolz. „Sehr gut“, sagte die Esche. „Und du hast eine Begleiterin gefunden.“ Coyote flüsterte: „Ich bin mir nicht sicher, ob sie eine Frau ist.“ Die Esche lachte herzlich.

„Nun, mein Lieber“, sagte die Esche, „die erste Aufgabe hast du gelöst. Bist du bereit für die zweite?“ Coyote zuckte lässig mit den Schultern. „Warum nicht?“ Er musste sich eingestehen, dass der Deal mit dem Baum eine sehr verrückte Aktion ganz nach seinem Geschmack war. „Also, hör gut zu“, sagte die Esche. Coyote spitzte die Ohren. „Die zweite Aufgabe lautet: Lass mich den Duft von mindestens 375 Erdenwesen riechen, die niemals den Weg zu mir in den Wald finden werden.“

Coyote sagte lange, lange nichts, was sehr ungewöhnlich war. Schließlich jaulte er auf. „Wie soll das denn gehen? Das funktioniert nie!“ „Lass es uns ausprobieren.“ Caote sprang auf. Frauen! Ja, das war der Beweis! Caote musste eine Frau sein. Nur sie konnten so irrational, so begeisterungsfähig für eine absolut aussichtslose Sache sein. „Du bist auch nicht gerade als Meister vernünftigen Handelns bekannt“, raunte die Esche. Coyote wollte protestieren. Er zweifelte gerne an vielem, aber selten an sich. „Danke für das Kompliment!“, rief Caote. „Die Esche glaubt, dass wir es schaffen!“ In Coyotes Kopf drehte es sich. Bevor ihm etwas zu sagen einfiel, hieß ihn der Baum streng, nun zu gehen.

Coyote trottete davon, Caote hüpfte hinter ihm her. Ihre gute Laune ging ihm manchmal mächtig auf die Nerven. Er schlich dahin, Stunden über Stunden, und dachte über die verflixte zweite Aufgabe nach. Plötzlich hielt er inne. „Ich hab’s! Wir gehen in die große Stadt“, sagte er bestimmt. „Wir suchen bei den Menschen.“

Am nächsten Tag erreichten sie das Zentrum einer riesigen Stadt. Coyote blieb vor einem Gebäude stehen, das mindestens fünfmal so hoch war wie die Esche. Darin, so wusste er, hielten sich die Menschen acht Stunden oder länger auf, bevor sie in ein Auto stiegen, zu einem Haus fuhren, dort übernachteten und am nächsten Morgen wieder mit dem Auto zu diesem Gebäude gelangten. Wenn sie das einmal nicht taten, nannten sie das Wochenende oder Urlaub. Es konnte schon mal vorkommen, dass die Menschen dann zu einem Wald kamen. Aber nicht zu dem der Esche. Denn durch diesen Wald führte kein Premium-Wanderweg und keine E-Bike-Route, es gab dort keinen Klettergarten und kein Waldbaden. In diesem Gebäude würde er die 375 besagten Erdwesen finden. Caote folgte ihm, ohne Fragen zu stellen.

Coyote verwandelte sich schnell in einen Menschen, einen sehr attraktiven jungen Mann in piekfeinem Anzug. Er blickte auf Caote. „Ich komme so mit“, sagte diese fröhlich. In ihrer großen Tasche klirrte es. „Gläser“, erklärte sie. „Zur Geruchsaufbewahrung.“ Die beiden gelangten dank Coyotes adrettem Äußeren ungehindert in das Bürogebäude. „Lass uns gleich hier anfangen“, sagte Coyote und steuerte auf eine Tür zu.

Caote wollte draußen warten und sah sich neugierig um. Eine Frau in einem superschicken Business-Kostüm lief an ihr vorbei. Ein Duft von Blumen wehte hinter ihr her. „Warten Sie“, rief Caote und zog ein Glas aus der Tasche. Die Frau blickte sich um. „Darf ich mir etwas von Ihrem Geruch abfüllen?“, fragte Caote mit ihrer Kopfbedeckung aus allerlei Vogelfedern, einem weiten Rock aus bunten Streifen, einer strahlend weißen Bluse unter einer speckigen Weste und ohne Schuhe an den Füßen. „Gehen Sie, oder ich rufe den Sicherheitsdienst“, sagte die Frau und klapperte auf ihren sehr hohen Schuhen davon.

Da hörte Caote ein lautes Poltern und einen Schrei. Sie riss die Tür auf, hinter der Coyote verschwunden war – und Coyote purzelte über sie. Die Gläser schlugen auf die Marmorplatten und zersplitterten in tausend Stücke. Coyotes Menschengesicht sah ganz und gar nicht mehr attraktiv aus. Der Mann, den Coyote beim Pinkeln auf der Toilette angesprochen hatte, hatte ihm statt einer Geruchsprobe seines Urins einen Schlag ins Gesicht gegeben. Die beiden verhinderten Geruchssammler sahen zwei mürrisch blickende Männer auf sich zukommen. „Wir gehen schon“, rief Caote und rannte mit Coyote aus dem Gebäude.

Die Stadt war laut, schmutzig, groß – viel zu groß für einen Coyoten und ein Wesen unbestimmter Herkunft, das aussah wie ein sehr wildes Hippiemädchen. Hungrig setzten sich die beiden auf den Bürgersteig. Ein Klimpern holte Coyote aus seinen trüben Gedanken. Jemand hatte ihnen Geld vor die Füße geworfen. Caote zwinkerte Coyote zu. Nach einer Weile hatten sie genug. Coyote kaufte sich beim Türken eine Lammkeule, „eine besonders fleischige für einen besonderen Kunden“ wie der Verkäufer bemerkte, und Caote bestellte beim Italiener eine Pizza zum Mitnehmen, „mit allem drauf, was Sie haben“. Der Pizzabäcker wünschte ihnen einen schönen Tag und nannte ihnen einen Park zum Picknicken. Etwas versöhnt mit den Menschen fanden Coyote und Caote eine Wiese und ließen es sich schmecken.

Die Lammkeule war ein Gedicht, und Coyote versuchte nicht daran zu denken, wie er den Geruch von 357 Erdwesen zur Esche bringen sollte. Caote schien sowieso sehr selten zu denken. Sie biss in ein Stück Pizza und strahlte ihn an mit den Augen eines Kindes. „Denken und Nachdenken ist zweierlei“, sagte sie mit der Stimme einer alten weisen Frau. Nicht weit weg von ihnen wälzte sich ein Hund genüsslich im Gras. Ein kleines Mädchen lief zu ihm und tat es ihm gleich. Sie gluckste und kicherte glücklich. „Steh sofort auf!“ Eine Frau war herbeigerannt und zog das Kind auf die Beine. „Du machst dich ja ganz schmutzig!“ Das Mädchen weinte und schrie. Caote beugte sich zum Gras und schnupperte. Dann schaute sie Coyote verschmitzt an. „Riech mal“, sagte sie. Coyote fuhr mit seiner Schnauze über den Boden. „Riecht nach Erde.“ „Genau!“, rief Caote. „Nach mindestens 375 Erdwesen!“ Caote – und Coyote, als er endlich verstand – ließen sich in die Wiese fallen und wälzten sich ausgelassen. Sie kugelten neben-, über- und untereinander, glucksten und kicherten, und alle unnützen Gedanken wirbelten durcheinander und lösten sich auf. Als sie schließlich aufstanden, rochen sie nach mindestens 375 Erdwesen – nach 12 Gänseblümchen, 5 Hunden, 17 Kaninchen, 56 Gundelreben, 85 Regenwürmern, 21 Äpfeln, drei Buchen, fünf Haselnussträuchern, 68 Spinnen, 25 Pilzen, 74 Käfern, 4 Menschen…

Coyote in einer ver-rückten Welt

Es war einmal an einem Tag, an dem die eisigen Lüfte des Winters in ihre Heimat gen Norden zogen und die Vögel den Frühling aus dem Süden mitbrachten. Da schlich Coyote missmutig über die sanftgrünen Hügel. Je mehr die Sonne seinen Pelz wärmte, umso grimmiger knurrte er seine strahlende Umgebung an. Er war schlecht gelaunt. Sehr schlecht gelaunt. Von Natur aus gab er sich nie geschlagen. Selbst wenn jemand dabei war, ihm das Fell über die Ohren zu ziehen, fand er einen Ausweg. Doch nun hätte er nichts dagegen gehabt, in eine tiefe Schlucht zu stürzen und eben mal nicht davonzukommen. „Mein Leben hat keinen Sinn mehr!“, jaulte er selbstmitleidig.

Die Zeiten, da er den Menschen geholfen hatte, sich auf der Erde zurechtzufinden, da er ihnen den Umgang mit Messer und Gabel gelehrt und sie mit seinen Späßen zum Lachen oder zum Fluchen gebracht hatte, waren längst vorbei. Einst war er der Mächtigste, Trickreichste, Respektloseste, Listigste, Fieseste, Überlebens-künstlerischste. Doch neben den neuen Verrücktheiten der Menschen machten sich seine Späße wie alberner Kindergeburtstagsklamauk aus. In seiner Not war er mit einem großen Schiff über das große Meer gefahren, obwohl er Wasser hasste, in der Hoffnung, auf der anderen Seite des Ozeans noch einen Blumentopf gewinnen zu können. Pustekuchen! Hier war nichts besser.

Er kickte mit der rechten Vorderpfote gegen einen Baumstamm. „Autsch!“ Wütend stürzte er sich auf den Baum. „Warum lässt du die Menschen sich nicht einfach austoben?“, fragte der Baum den tobenden Coyote, „entweder kommen sie zur Vernunft oder sie verschwinden. Ganz einfach.“ „Was?“, rief Coyote. „Ich bin doch kein Baum, der reglos zuschaut. Ich habe einen Job zu erledigen!“ Er stieß wieder die Pfote gegen den Stamm. „Autsch!“ „Ist das dein Job?“, höhnte der Baum, „dir die Pfote zu zertrümmern?“ „Genau!“, schrie Coyote. Er erklärte diesem Baum der so genannten Alten Welt, dass genau dies sein Job war, um den Menschen zu zeigen, was ihnen passierte, wenn sie sich mit einem Baum anlegten. Als der Baum einwandte, er sehe keinen Menschen, der zuschaue, brüllte Coyote: „Genau! Genau das ist mein Problem. Es schaut mir kein Mensch mehr zu.“ Keiner nahm seine Lektionen mehr ernst. Der letzte, bei dem Coyote es versucht hatte, hatte einen Axt genommen und den Baum einfach umgehauen. „Mich hätte der Baum erschlagen, der Mensch spazierte wohlbehalten nach Hause“, jammerte Coyote. Er war ein nutzloser, nicht mal besonders alter Kojote, der sich völlig umsonst lächerlich machte.

Der Baum, der eine Esche war, ließ einen Sonnenstrahl durch sein lichtes Laubdach auf Coyote fallen. Der streckte sich und legte sich, müde geworden, der Länge nach auf die Erde. Die Schnauze in die Wiese gegraben, brummelte er: „Eigentlich ist es ein viel zu schöner Tag, um sich über die Menschen zu ärgern.“ Seine Unterlage war flauschig, und auf dem Ast über ihm zwitscherte eine Amsel ein federleichtes Frühlingslied. „Was soll’s?“, murmelte Coyote und schloss die Augen. Die Esche aber kitzelte ihn mit ihren vertrockneten Blättern in der Nase und sprach: „Du willst also, dass dir die Menschen wieder zuhören. Ich gebe dir drei Aufgaben.“ Coyote stöhnte. „Drei Aufgaben! Nie!“ Er wollte sich schon abwenden. „Was für ein Jammer“, sagte die Esche. „Menschen hören nicht mehr auf Kojoten, und Kojoten nicht mehr auf Bäume.“ „Seit wann hören Kojoten auf Bäume?“, schrie Coyote. „Seitdem dein Ururgroßvater sein Glied verloren hat, weil er nicht auf einen Baum hörte“, rief die Esche zurück. Coyote schluckte. Sein Glied zu verlieren, war ungefähr das Schlimmste, was einem Kojoten passieren konnte. „Okay“, sagte er ängstlich, „ich kann mir deine Aufgaben ja mal anhören.“

Die Esche schmunzelte. „Die erste Aufgabe lautet: Bringe mir drei Eicheln, die mindestens drei Mal drei Mondinnen kein Licht gesehen haben.“ Bevor Coyote etwas erwidern konnte, hieß der Baum ihn streng, nun zu gehen. Die nächste Aufgabe würde er bekommen, wenn er die erste gelöst hatte, gab die Esche ihm noch mit auf den Weg. Dann stand sie still vor ihm, als ob sie nie mit ihm gesprochen hätte.

Coyote schlich um den Baum herum. Da saß gegen den Stamm gelehnt eine… Er runzelte die Stirn. Eine junge Frau, ein Kind, eine Alte, ein junger Mann? Das Wesen hatte zwei Arme, zwei Beine, saß auf Menschenart, doch Coyote war sich keineswegs sicher, dass er einen Menschen vor sich hatte. „Hallo.“ Der Kojote sprang einen Schritt zurück. „Hallo“, antwortete er unfreiwillig krächzend. Die Frau war seltsam gekleidet. Sie trug eine Kopfbedeckung aus allerlei Vogelfedern, einen weiten Rock aus bunten Streifen, eine strahlend weiße Bluse unter einer speckigen Weste und einen zerschlissenen Lederbeutel an einem geflochtenen Gürtel. An ihren Füßen trug sie nichts. Das war ungewöhnlich für einen Menschen zu einer Zeit, da sich der Frühling noch jung und kühl zeigte. Coyote war wieder er selbst. „Okay“, sagte er lässig, „ich will dich mal eine Frau nennen, obwohl…“ Er legte eine vielsagende Pause ein. „Okay“, antwortete die Frau ebenso lässig. „Ich will dich mal einen Kojoten nennen, obwohl…“ Sie wollte ihm nicht sagen, dass er aussah wie ein räudiger Hund. „Kannst es ruhig aussprechen. Ich sehe aus wie ein räudiger Hund“, sagte Coyote missmutig.

Die Frau sah ihn fragend an, doch sie fragte nichts. „Was tust du hier?“, fragte stattdessen Coyote. „Nichts“, antwortete die Frau. Coyote sah sie mit zusammengekniffenen Augen durchdringend an. Er sah nichts, was sein Misstrauen weckte. Sie sah ihn an wie ein kleines, unschuldiges Kind. Da kam Coyote ein Gedanke. „Du hast also nichts vor im Moment?“, fragte er. „Nichts“, sagte die Frau. „Ich könnte Hilfe brauchen“, sagte Coyote, „bei einem sehr spannenden Job.“ Die Frau sprang auf. „Gut!“, rief sie strahlend. Coyote zögerte. Vielleicht würde sie doch eher eine Last sein, überlegte er. Aber so naiv wie sie schien, konnte er sie für Arbeiten gebrauchen, die er selbst nicht machen wollte. Was immer das sein mochte. „Gut“, sagt er. „Dann lass uns gehen.“ Die Frau fragte nicht, wohin.

Coyote, der sich trotz zahlloser Rückschläge etwas auf seine Schlauheit einbildete, hatte bereits einen Plan. Die Menschen, wusste er, sammelten mitunter Vorräte. Warum sollten da nicht auch irgendwo drei Eicheln lagern, die mindestens drei Mondinnen kein Licht gesehen hatten? An einem Nachmittag trabte er durch eine Wohnstraße. Seine Begleiterin hüpfte an seiner Seite, schlug ein Rad vor ihm, schnupperte an einer gerade aufgeblühten Blume und zupfte ein paar Brennnesselblätter, die sie sich in den Mund steckte. Coyote fragte sich, ob sie ganz bei Sinnen sei. Doch eins stand fest: Sie war der fröhlichste Mensch – wenn sie denn ein Mensch war – den er je gesehen hatte.

Coyote roch, wenn ein Haus menschenleer war. So wurde er schnell fündig. Er schlich auf seine ganz eigene Art hinein und wunderte sich, dass die Frau – oder was dieses Wesen auch immer sein mochte – auch ihre ganz eigene Art hatte, durch verschlossene Türen zu gelangen. Das Haus war sehr sauber und sehr aufgeräumt. Die Frau sprang durch die Räume, nahm dieses in die Hand, staunte über jenes. Coyote seufzte. Wie ein kleines Kind. Vor einer schwarzen runden Dose verweilte sie länger. Coyote kam neugierig näher. „Alexa“, las die Frau laut die Worte auf der Dose. „Guten Tag. Was kann ich für dich tun?“ Coyote blickte sich erschrocken um. Auf der Dose blinkte ein Lichtring. „Alexa. Was ist das?“ „Bitte präzisiere deine Frage.“ Die Frau lachte. „Eine sprechende Dose. Oder ein Wesen von einem anderen Stern.“ Die Dose blieb stumm. „Was bist du?“, versuchte es Coyote. Schweigen. „Antworte mir!“ Stille. „Alexa“, sagte Coyotes Begleiterin. „Guten Tag. Was kann ich für dich tun?“ „Alexa“, wiederholte die Frau. „Stelle mir bitte eine Frage.“ „Du musst sie beim Namen nennen“, sagte die Frau zu Coyote. Der murrte widerwillig.

Aber vielleicht hatte Alexa tatsächlich Antworten. „Alexa“, hob Coyote an. „Was kann ich für dich tun?“ „Alexa. Wo finde ich drei Eicheln, die mindestens drei Mal drei Mondinnen kein Licht gesehen haben.“ „Tut mir leid, das verstehe ich nicht. Präzisiere deine Frage“ „Alexa. Drei Eicheln…“, begann Coyote. „Eine Eichel“, fiel im Alexa ins Wort. „Ein männliches Säugetier hat eine Eichel. Der Baum Eiche dagegen trägt zahlreiche Eicheln. Es sind ihre Früchte, die im Herbst…“ Alexa holte weit aus und ließ sich von Coyotes Einwänden nicht beirren. Der hielt sich bald verzweifelt die Ohren zu. „Du bist eine verdammte Klugscheißerin, Alexa“, platzte es aus Coyoteheraus. „Klugscheißerin“, wiederholte Alexa, „das ist eine ambivalente Wortschöpfung…“ „Nein!“ Coyote verzog sich winselnd in eine Ecke. „Du hast jetzt genug gequatscht. Alexa, stopp!“ Alexa verstummte. Coyote blickte seine mysteriöse Begleiterin, die gesprochen hatte, verwundert an. Zu ihm gewandt, sagte diese: „Lass uns gehen. Die Dame in der Dose wird mir langweilig.“ Sie sprang aus dem Fenster. Coyote hechtete hinterher – und landete im Gartenteich. Prustend zog er sich heraus. „Ihr Frauen macht mich fertig“, stöhnte er. „Ich glaube nicht, dass Alexa wirklich eine Frau ist, und ich…“ Coyote schüttelte sich heftig. Seine Begleiterin freute sich über die Dusche.

Coyote war nicht gut drauf. Überhaupt nicht gut drauf. Er hegte den Verdacht, dass die Esche ihn zum Narren gehalten hatte. Mürrisch tigerte er einen Parkweg auf und ab. Seine Begleiterin saß im Schneidersitz auf der Wiese. Vor ihr hüpfte ein Eichhörnchen, kam vorsichtig näher und strich mit seinem Schwanz über die Füße der Frau. Die flüsterte dem Tier leise ins Ohr. Coyote verdrehte die Augen. Er kam sich vor wie ein Narr, von Narren umgeben. „Was weißt du über Narren?“, fragte ihn die Frau. Diese… Sie machte ihn verrückt. Coyote raste gefährlich knurrend in Richtung Eichhörnchen. Schnatternd flüchtete das Tier auf den nächsten Baum. Dann rannte Coyote Zähne fletschend auf die Frau, das Kind, was immer dieses Wesen auch sein mochte, zu. Sie blieb ungerührt sitzen, Coyote prallte an ihr ab und landete unsanft auf der Erde. Als er aufblickte, sah er die junge Frau wie zuvor lächelnd auf der Wiese sitzen. „Was bist du eigentlich?“, schrie er. Die Frau sah ihn freundlich an. „Ich bin alles. Und ich bin nichts“, sagte sie ruhig. Coyote schüttelte sich. Doch die rätselhaften Worte brachten ihn plötzlich auf eine Idee: „Hast du was mit dieser Esche zu tun?“

Die Frau sprang auf und ging leichten Schrittes zum nächsten Baum. Kaum hatte sie ihren Rücken daran gelehnt, hüpfte das Eichhörnchen auf ihre Schulter. „Man könnte meinen, du bist ein Eichhörnchen! Was hast du mit dieser Kreatur zu tun?“, nörgelte Coyote. Die Frau sah ihn erstaunt an. „Das gleiche, was ich mit dir zu tun habe. Wir atmen die gleiche Luft, trinken das gleiche Wasser, die gleiche Sonne wärmt uns und die gleiche Erde ernährt uns.“ Sie neigte ihren Kopf zärtlich zu dem des Eichhörnchens. „Und diese Kreatur“, sagte sie an Coyote gewandt, „könnte dir helfen“. Coyote verstand nichts mehr, er ließ sich auf die Wiese fallen und kniff die Augen zusammen. In seinem Kopf drehte sich ein Karussell, auf dem sich das Eichhörnchen und die junge Frau fröhlich wild drehten. Etwas berührte seine Schnauze. Das Eichhörnchen saß direkt vor ihm. „Ich habe gehört, du bist auf der Suche nach drei ganz bestimmten Eicheln“, fiepte es. Coyote wähnte sich in einem irren Traum. Das Eichhörnchen aber sprang zu einer Stelle in der Wiese und grub mit seinen kleinen Pfoten ein Loch in die Erde. Und nacheinander legte es drei Eicheln vor Coyotes Schnauze. Das Eichhörnchen zwinkerte dem Kojoten zu. „Drei Mal drei Mondinnen haben sie kein Licht gesehen…“

Nichts mit großer Zauberin

Manchmal gibt es ein Stoppzeichen

Das Holz des Haselnussstrauches ist sehr elastisch und sehr zäh. Du kannst aus den jungen Zweigen Körbe flechten und dir aus einer Rute einen Pfeilbogen oder einen Wanderstock anfertigen. Seit jeher war der Haselstab auch ein magisches Wirkzeug, ein Super-Leiter allerlei Energien. Wer viel zu geben hat, weiß sich zu schützen. Einen Zweig abzuschneiden, will gut überlegt sein.

Es heißt, dass es bei den Germanen bei Todesstrafe verboten war, einen Haselnussstrauch zu fällen. Das klingt sehr martialisch, und vielleicht interpretierten Geschichtsschreiber aus anderen Kulturkreisen das Gehörte auf ihre Art und in ihrer Denkweise. Auf jeden Fall gab es eine Zeit, als ein unbedachter Umgang mit diesem zaubermächtigen, nährenden und heilkräftigen Baum unvorstellbar war.

Eine Lektion in Achtsamkeit erteilte die Hasel mir dieser Tage. Ich entdeckte beim Spazierengehen einen wunderschönen Strauch voller Haselkätzchen. Ein junger Zweig fiel mir sofort ins Auge. Das könnte ein prächtiger Zauberstab werden, überlegte ich mir. Ich fragte nach und meinte, der Zweig sei für mich bestimmt. Fröhlich ging ich mit ihm nach Hause, öffnete die Tür, zog Wanderschuhe und Jacke aus, ging aufs Klo – und stutzte. Wo hatte ich eigentlich den Haselstab gelassen? Er war verschwunden.

Ich schmunzelte. Es war also nicht vorgesehen, dass ich als große Zauberin den Haselstab schwang. Das Erlebnis lehrte mich einmal mehr Respekt vor den Mitbewohner*innen der Erde. Zum Ernten, Sammeln und Nehmen von Bäumen und Wildpflanzen gehört, die potenzielle Schenkerin (in diesem Fall die Hasel) kennen zu lernen, die Absicht zu klären, den Bedarf zu überprüfen, zuerst ernsthaft zu fragen und sich zum Schluss von Herzen zu bedanken. Das Schneiden eines Haselstabes zu magischen Zwecken ist eine ganz besondere Handlung. Die will mindestens dreimal überlegt und gefragt sein. Mondin und Sonne haben auch noch ein Wörtchen mitzureden.

Also wird mich die Hasel dieses Jahr begleiten, damit sie mir vertraut wird.

Es macht viel Freude und bereichert den eigenen Wissens- und Weisheitsschatz, sich eine Zeitlang auf einen bestimmten Baum einzulassen, und es lohnt sich, dabei alle Sinne und alle Möglichkeiten der Kommunikation zu nutzen. Für den Kopf gibt es eine Menge an Literatur. Das sind meine Lieblingsbücher über Bäume:

Mythische Bäume, von Ursula Stumpf, Vera Zingsem, Andreas Hase.
Blätter von Bäumen, von Susanne Fischer-Rizzi.
Bäume & die heilende Kraft des Waldes, von Adelheid Lingg.
Bäume. Das Haarkleid der Erde, von Regina Sommer.

Das Hasel-Leben wertschätzen

Haselkätzchen liefern die erste Nahrung für die Bienen, die weiblichen Blüten kommen leuchtend rot aus den Knospen

Rot, in der Farbe des Lebens, falten sich die weiblichen Blüten der Haselnuss zurzeit aus den Knospen. In diesem Rot schimmert geheimnisvoll ein Blau-violett wie aus einer anderen Welt. Der Haselstrauch ist ein Zauberbaum, der ewig leben kann. Uns Menschen bringt er zum Glück nicht die Unsterblichkeit auf Erden, doch er hält allerlei Schätze bereit. Im ausklingenden Winter ist er oberster Bienenschützer. Sein Pollenstaub, den er schon im Februar verbreitet, ist die wichtigste erste Nahrungsquelle für die bedeutenden Bestäuberinnen.

Zur gleichen Zeit beginnt die Hasel uns ihre materiellen Geschenke anzubieten. Die Kätzchen lassen sich für einen Grippe-Tee trocknen, ihre Flavonoide wirken schweißtreibend, die ätherischen Öle beseitigen Keime. Und die Knospen… mahnen jeden, der schon gedanklich auf dem Weg zum Sammeln ist, innezuhalten. Die Knospen enthalten hochaktive Zellkerne, die gesamte genetische Information des Baumes. In ihnen ist pures Leben, das wertgeschätzt werden will.

Die Hasel will sich mit uns austauschen, sie ist eine Meisterin der Kommunikation. Als der Götterbote Merkur die Urmenschen mit seinem Haselstab berührte, fingen sie an zu sprechen, heißt es in einer Sage. Der Haselnusstrauch ist mit dem Menschen seit jeher besonders verbunden und sie mit ihm. Er wächst meist in ihrer Nähe. Es scheint, als ob der Baum unsere Gesellschaft suche. So suche ich meinerseits die Gesellschaft der Hasel und spreche mit ihr, bevor ich ein Kätzchen pflücke oder eine Knospe abbreche. Ich lehne mich an die vielen Stämme und sinke in ihre Welt, höre einfach nur zu.