Ich muss nichts. Ich kann einfach nur leben. Die Federn des Raben schimmern im Herbstsonnenlicht. Das Blau im Schwarz lockt mich in die Leere, die voller Magie, nichts und alles ist. Die Ernte des Sommers werde ich mitnehmen. Ich schalte das Smartphone aus. Ein kleiner Kristall liegt in meiner Hand. Botschaften aus einer neuen, alten Welt versuchen mich zu erreichen. Ich überlasse mich der Dunkelheit und dem Licht. Dem Leben auf der sich wandelnden Erde.
Optimismus, habe ich gelesen, heißt, zu glauben, alles werde gut. Hoffnung bedeutet, zu wissen, dass letztlich alles einen Sinn hat.
Wenn Hunde schnüffeln, sagt mir jemand, lesen sie Zeitung. Sie nehmen dabei jede Menge Informationen auf. Allerdings bekommen die Hunde die Nachrichten aus erster Hand. Sie nehmen direkt wahr. Also, wie wäre es, statt einem Buch einmal die Erde zu lesen.
Die Holunderblüten beginnen zu strahlen. Dieser wunderbare Baum vor der Haustür ist mutige Vorreiterin, mächtige Heilerin, große Göttin… Ihre Blätter entfaltet sie früh, alles an ihr ist Medizin, und kaum eine andere Pflanze in unseren Breitengraden zeigt uns die Aspekte des Lebens in ihrer Vielfalt so wie sie. Also werde ich den Holunder lesen.
Das Leben passiert, während wir versuchen, es zu planen, vorherzusehen, zu regulieren, zu kontrollieren. Mag sein, dass der eine oder die andere irgendwann mal inne hält und sich erinnert an das, was da eigentlich alles war. In der Zeit, wo er, sie keine Zeit hatte. Gedanken tauchen auf über das, was ist, während ich darüber sinniere, was alles hätte sein können. Während ich mir über meine Work-Life-Balance Sorgen mache. Und plötzlich merke, wie absurd es ist, Arbeiten und Leben zu trennen.
Gerade jetzt zeigt uns die Natur – zu der wir ja dazugehören – wie selbstverständlich sich Leben gestaltet, neu erschafft, aus dem nährenden Dunkel ans Licht kommt. Möglicherweise können wir die Welt verändern allein dadurch, dass wir uns auf die Seite des Lebens stellen und uns den Kräften der Zerstörung verweigern.
Um loszulassen, braucht es Vertrauen und Zuversicht. Eine starke kleine Pflanze kann dabei äußerst hilfreich sein: der Kriechende Günsel. Anders als sein Name nahelegt, steht er blau-violett blühend sehr gerade aufgerichtet auf artenreichen Frühlings- und Sommerwiesen. Unter der Erde allerdings geht er weit verzweigt in die Tiefe – und nimmt dich mit, wenn du willst. Lass dich fallen, sagt er. Ganz unten bist du bei dir angekommen und kannst dich mit einem Schatz im Gepäck an den Wiederaufstieg machen.
Die Schätze, die es in den Märchen zu finden gilt, sind meist nichts anderes als Symbole für das eigene authentische Sein in Verbundenheit mit einer Quelle der Fülle. Um diesen Schatz zu entdecken, heißt es, mutig zu sein. Vorgezimmerte Wahrheitsgerüste könnten unter dir zusammenbrechen.
Die Anspannung, die wir aufwenden, um nicht abzustürzen, mag uns vom Leben abhalten. Der Günsel hilft beim Fallen, indem er die Erstarrung löst. Die beschriebenen medizinischen Eigenschaften des Günsels scheinen nahezu grenzenlos. Wie immer geht es darum, da zu heilen, wo die Energien in unserem Körper aus dem Gleichgewicht geraten sind, bei Entzündungen, Vergiftungen, inneren und äußeren Wunden, Schmerzen, Wechseljahrsbeschwerden, Stoffwechselstörungen, Ängsten, Anspannungen…
Mach dir einfach erstmal eine Tasse Tee mit einem frischen, blühenden Stängel. Die Farbe des Wassers bringt dich vielleicht zum Staunen. Dann lass dich auf den Günsel ein oder lass ihn los.
Die heilmächtigen Frauen folgten den Krötenpfaden auf der Suche nach der Medizin der Natur. Im Dunklen, Wässrigen, Schleimigen der Sümpfe und Moore hoben sie Schätze und verbargen sich vor denen, die nach einer anderen Art der Macht strebten.
Verborgen mag auch heute Vieles sein, Verstecken ist ein Spiel für Kinder. Was uns Angst machen soll, können wir wieder als ureigene Verbündete erkennen: das Feuchte, das unsichtbare Unheimliche, das Sumpfige trägt den Samen des Erdenlebens und lässt ihn keimen und wachsen zur gegebenen Zeit. Das strahlende Licht im Außen gibt sich jetzt bescheiden in Respekt vor dem gebärenden Dunkeln im Inneren.
Traurig, wütend, fassungslos, verwirrt – bin ich, abwechselnd, immer mal wieder. Hinter, über, unter, in mir kichert – die Hexe gemeinsam mit den Krähen. Die Zaunreiterin balanciert einigermaßen sicher auf ihrem schmalen Grat durch sichtbare und verborgene Welten, sowohl die eine als auch die andere Seite im Blick. Die Krähen kennen die Gesetze, die Hexe in mir ahnt sie oft nur. Und manchmal spüre ich sie in meinem Körper und meinem Herzen. Dann weiß ich um sie. Voller Freude, im tiefen Gefühl der Verbundenheit. Alles, was spalten will, verliert seine Macht. Ich bin offen in mir und für die Welt, die wir Erdenwesen in so vielen Facetten mitgestalten.
All die Fragen, die mich umtreiben, haben durch die Zaunreiterin, die sich nicht einfangen lässt, die Chance, eine Antwort zu bekommen – unabhängig von Sachzwängen, mir meiner Ängste bewusst, in großem Respekt vor allem und für alles, was ist:
Was heißt Frieden?
Wie können wir weiter miteinander kommunizieren?
Was bedeutet es, in Verbundenheit zu leben?
Wann sind wir frei?
Welche Energien wollen wir nähren?
Welcher ist mein, unser Weg der Heilung?
Eine Frage begleitet mich dabei wie ein roter Faden – nicht zuletzt um meiner Trauer, meiner Wut, meiner Fassungslosigkeit und Verwirrtheit den gebührenden Platz einzuräumen:
Kann ich Kali in die Augen schauen, die für den Tod tanzt, weil es ohne diesen kein Leben gibt?
* Mehr über Kali erfahren kannst du zum Beispiel auf der Webseite artedea.net/kali/
Balance mag ein Augenblick des Stillstands sein. Zur Frühlings-Tagundnachtgleiche stehen die Waagschalen von Hell und Dunkel im Gleichgewicht. Doch was innezuhalten scheint, ist längst schon wieder in Bewegung. Wenn wir uns wünschen, die Zeit möge stillstehen, fürchten wir im Grunde die ungewisse Veränderung. Das Leben lässt sich nicht aufhalten, es ist weder fest und starr noch vorhersehbar. Es ist ein unendliches Spiel, spontan, unberechenbar und unglaublich kreativ. Allein welche Bewegung ich in das große Netz der Erdenfamilie hineingebe, liegt in meiner Hand.
Aufgetaucht aus der feuchten Erde, sattgrün leuchtend im geheimnisvollen Halbschatten, lässt er sich nicht schrecken von eisigen Nächten: Der Bärlauch zeigt sich, um das Leben zu nähren. Er ist ein Kind der Dunkelheit, des Nichts, erschaffen im Gestaltungsraum des inneren Leuchtens, in dem nichts ausgeschlossen und alles möglich ist.
Ich beuge mich hinunter zu den Blättern, pflücke sie einzeln, unter meine Fingernägel legt sich ein grünbrauner Rand. Mutter Erde.