Massenbaumhaltung

Ausgezählt

Den größten Teil seiner Geschichte hat der Mensch im Wald gelebt. So lässt sich erklären, warum jede radikale Veränderung zwischen Buchen, Eichen und Tannen uns in eine tiefe Melancholie fallen lässt. Wehmütig schockiert schauen wir auf die braunen Skelette der Fichten, der eigentlich immergrünen Bäume, Symbol des ewigen Lichts und immerwährenden Lebens. Tränen des Abschieds sind jedoch nur bedingt angebracht. Was wir mit den Fichten bei zunehmender Trockenheit sterben sehen, ist weit entfernt vom wilden Wald unserer Träume und kollektiven Erinnerungen. Es sind von Menschenhand angelegte Baumplantagen zum Zwecke der wirtschaftlichen Nutzung. Was zu Ende gehen will, ist also eine Form der Massenbaumhaltung.

Eigentlich müssten wir dem Borkenkäfer dankbar sein. Er schafft Platz für Neues, arbeitet mit daran, ein gestörtes System wieder in Balance zu bringen. Dabei geht es dem Käfer nicht darum, zu siegen und Verlierer hinter sich zu lassen. Er hat einfach eine Aufgabe zu erfüllen nach den immer gültigen Gesetzen des Universums.

Dass in den engen Fichtenforsten ein Baum des Lebens stehen sollte, würde niemandem einfallen. Es ist dort gespenstisch still, dunkel und leer. Tot. Diese Anlagen haben dem Raum greifenden, majestätischen Nadelbaum der Hoch- und Mittelgebirge die Macht genommen. Mag sein, dass die Fichte nach der Zeit des Loslassens einmal wieder ihren angestammten Thron einnehmen wird.

Berührbar

Alles an der Linde ist gut und schön, weich und süß. Sie ist der Baum des Glücks und des Wohlergehens. Sie verwöhnt die, die bei ihr weilen und steckt sie an mit ihrer grenzenlosen Liebe. Wer das Kämpfen gelernt hat, das Leisten und das Konkurrieren, dem können die schwülstigen Lobeshymnen auf diesen edlen Baum ziemlich auf die Nerven gehen. Doch ein Spaziergang an einem warmen Frühsommertag entlang einer Lindenallee, der betörende Duft des überfließenden Nektars in den Blüten, das Summen unzählbarer Bienen und das Spiel des überirdisch reinen Lichts mit den herzförmigen Blättern haben die Kraft, die härtesten Panzer zu schmelzen.

Die Sage um Siegfried, der den Lindwurm, den nährenden, schützenden Erddrachen tötet, um Unsterblichkeit zu erlangen, beschreibt die Qualität der Linde. Als Siegfried im Blut des Drachens badet, fällt ihm ein Lindenblatt zwischen die Schulterblätter. Damit behält der Held eine verwundbare Stelle. Er bleibt berührbar für die Liebe und verletzlich, was ihm die Sterblichkeit bewahrt und ihn einbindet in den Zyklus des Lebens.

Die Linde ist wie der Holunder mit der großen Göttin verbunden – mit der Holle, Freya, Aphrodite, Venus, die die Menschen lehrten, das Leben liebend zu leben. Der mächtige Baum mit seiner ausladenden Krone wurde immer als Versammlungsort geschätzt. Er war Richtstätte, da er sanft, doch klar die Wahrheit ans Licht zu bringen vermochte, er war Tanz- und Festplatz, ein Platz der Gemeinschaft und Kommunikation aller Art mitten im Dorf oder vor dem Hof.

Die einnehmende, zarte, liebe- und lichtvolle, entspannende und Herz öffnende Aura der Linde weist auf ihre enorme Heilkraft hin. Die Lindenblüten helfen bei Fieber, Husten und Erkältungskrankheiten, bei Kopfschmerzen, Stress, Nervosität und Schlaflosigkeit, bei Blähungen, Sodbrennen und Darmerkrankungen. Die Liste ist lang und immer unvollständig.

Alle großen Heilerinnen und Heiler aus der Welt der Bäume und Wildkräuter sind in ihrer Komplexität schwer zu erfassen. Nicht nur die einzelnen, wissenschaftlich nachweisbaren Wirkstoffe zeigen Wirkung. Ihre eigentliche Kraft entfaltet die Pflanze in ihrer geheimnisvollen Gesamtkomposition, die nicht bis ins Letzte seziert werden will und kann. Wen oder welche sie im Herzen berührt, für die oder den ist sie eine heilsame Begleiterin.

Lindenblütentee
Der Klassiker. Vor allem in der kalten Jahreszeit heiß getrunken, lindert er Erkältung, Husten, Schnupfen, Grippe und Bronchitis. Er macht Kopf und Brust frei und stärkt das Immunsystem. Mit dem Tee getränkte Kompressen helfen bei entzündeten und müden Augen.

Die Blüten mit den Flügelblättern sammelst du am besten an einem trockenen Vormittag im Juni oder Juli spätestens am vierten Tag nach dem Aufblühen. Ernte mit Bedacht und bedanke dich bei dem Baum, den Bäumen. Auf einem Leinentuch gut ausgebreitet kannst du die Blüten an einem luftigen, schattigen Ort trocknen. In dunklen, gut verschließbaren Gläsern nicht länger als ein Jahr aufbewahren.

Sommerbowle
ein bis zwei Tassen Blüten in einem Liter Apfelsaft drei bis fünf Stunden ziehen lassen, Saft von ein bis zwei Limetten dazugeben, nach Geschmack mit Mineralwasser auffüllen.

Zahnpulver
1 Teil Lindenkohle, 1 Teil Salbeiblätter, mörsern und mischen. Etwas davon auf die Zahnbürste geben und das Zahnfleisch sanft massieren. Reinigt, desinfinziert und stärkt das Zahnfleisch.

Verborgen in Veränderung

Wirklich unwirklich

Der Nebel glättet die Kanten und verwischt die Konturen, im Regen zerfließen die Strukturen und verschwimmen die Schärfen. Das Außen erscheint irreal, verborgen in Veränderung begriffen und kaum zu er-fassen. Worüber streiten wir uns? Was gibt es zu tun? Fragen bleiben unbeantwortet, Entscheidungen ungetroffen. Die Erde ruft nach Beachtung, nach Verwurzelung, nach sinnlichem Wahr-nehmen. Im Vagen bereitet sie den Weg zu innerer Klarheit. Mit ihrer Unterstützung unter den Füßen, im Bauch und im Herzen übe ich mich im Wünschen. Nicht den Porsche, den nächsten Urlaub oder den besseren Job. Ich suche zu ergründen, wofür mein Licht wirklich und wahrhaftig brennen will.

Die Kelten feierten in dieser Zeit Imbolc, das Fest der Brigid, Göttin der Inspiration und des ersten Lichtfunkens, der die Vision für das Wiedererwachen nach der Dunkelheit nährt. Die Christen segnen Kerzen, und auch sie ehren die alte Göttin des Lebens, in Gestalt von Maria. Alles ruht noch im Schoß von Mutter Erde, auch die Träume, Wünsche und Visionen. Bis sie als kleines Lichtlein aufsteigen und in die Welt gebracht werden wollen. Ganz behutsam und geschützt, denn noch pfeifen die eisigen Winde über sie, und der kalte Frost prüft ihre Beständigkeit.

Frei für die Vision

Wasser reinigt und bringt ins Fließen, nicht immer auf die sanfte Art.

Der prasselnde Strahl aus dem Duschkopf, das umhüllende Wasser in der Badewanne, das Eintauchen in einen kalten Wintersee, ein vom Wind begleiteter Spaziergang, fließend tanzen, sich fallenlassen in die Leere: Es tut gut, sich von blockierenden Gedanken und Handlungen zu reinigen, bevor die Vision aufleuchten kann – an Lichtmess, Imbolc, wie immer du das Jahreskreisfest Anfang Februar nennen willst. Doch hilft es nicht, dabei in dualen Mustern hängenzubleiben und sich alles Negatives fort zu wünschen. Reinigen heißt für mich, den Blick freizumachen auf die Vision, die gesehen werden will, und das, was dabei hinderlich sein könnte, nicht einfach nur beiseitezuschieben, sondern ihm einen angemessenen Platz im eigenen Leben einzuräumen.

Damit das Neue eine Chance hat, will es vielleicht einmal mit anderen Gedanken und Handlungen erschaffen werden. Eine Vision kommt da schon auf bei mir: ungewöhnliche Wege zu finden und zu gehen.

Die Gabe der Percht

Am Ende der Rauhnächte huscht die Percht, die wilde Macht der Tage zwischen den Jahren, noch einmal durchs Bild.

Die leuchtende, dunkle Percht,

die Weise, die Stürmische,

die Schöne und die Hässliche,

die Schützende und Verbergende,

die wilde Magierin

lässt sich feiern

am Tag der drei Magier aus dem Morgenland,

dafür,

dass sie dich zerzaust, verwirbelt,

in den brausenden, tiefschwarzen Nächten

der geschenkten Tage

geschluckt und wieder ausgespuckt hat.

Was bleibt, ist:

die Leere.

Auszuhalten

und neu zu füllen.

Frau Percht vertreibt die Zeit

Das Neue ist schon da

Die Kätzchen der Birke überwintern

Sie zeigen sich schon im Hochsommer, doch erst jetzt im Herbst, wenn die Tage kürzer und kälter werden, bemerke ich sie, weil sie so gar nicht in die Jahreszeit zu passen scheinen: die frischen Kätzchen von Haselstrauch und Birke. Zahlreich hängen sie an den Zweigen zwischen sich verfärbenden und abfallenden Blättern. Genauso wie die weiblichen Blüten in den Knospen scheren sie sich nicht um den nahenden Frost und haben sich entschieden, im Freien zu überwintern.

Die Knospen aller Bäume wachsen spätestens im August. Für mich sind sie ein zutiefst berührendes Symbol. Was auch geschehen mag, das, was ist, gebiert das, was sein soll, lange bevor es wachsen kann. Der Kreislauf des Lebens hat gerade dann, wenn sich die Natur zurückzieht, die Chance und die Gewissheit, sich weiterzudrehen.

Die Knospe enthält den gesamten Zweig mit Blättern und Blüten, der sich im nächsten Jahr entfalten will. Das zarte Neue braucht Schutz. Damit die Knospe nicht erfriert, zieht der Baum die Flüssigkeit aus ihr ab und lagert eine Zuckerlösung ein. Dann ruht die Knospe für viele Monate, um sich schließlich in der Frühlingssonne zu öffnen.

Sich neugierig einfügen

Was hat mir das Leben zu bieten?

Wunderfitzig die Welt betrachten heißt, sich staunend dem Leben öffnen. Wunderfitzig ist ein schönes schwäbisches Wort für neugierig und beschreibt eine Haltung, die die Kraft hat, Ängste und Vorurteile aufzulösen. Neugierige  Augen, wunderfitzige Herzen sehen die Möglichkeiten statt künstlich geschaffener Grenzen. Das Eichhörnchen verkörpert diese Eigenschaft. Ohne Furcht springt es meterweit in schwindelerregender Höhe von Ast zu Ast. In den Baumwipfeln ist das flinke Wesen ebenso zu Hause wie auf der Erde, wo es die Früchte des Sommers erntet. Wunderfitzig geht es auf Erkundungstour und findet allerlei Nährendes. Zum Beispiel die Mirabellen vor meinem Fenster. Jeden Tag springt es aus dem Efeu herbei, klettert auf das Bäumchen und nimmt sich eine Frucht. Ich teile gerne mit dem bescheidenen Mitesser, der mich dafür zum Lächeln bringt.

In den Parks und Wäldern huschen die Eichhörnchen bald emsig über den Boden. Sie sammeln für den Winter, vor allem Eicheln, Bucheckern und Fichtenzapfen. Ihre Beute vergraben sie in der Erde, und nur etwa die Hälfte davon essen sie in der kalten Jahreszeit. Der Rest der Samen und Nüsse überwintert gut geborgen und kann im Frühling keimen. So ist der Selbstversorger Eichhörnchen ganz nebenbei Waldgärtner und Naturschützer. Es muss nicht die Erde retten, gegen den Klimawandel kämpfen, seine Resilienz erhöhen. Wunderfitzig fügt sich das Eichhörnchen einfach ein in den Kreislauf des Lebens.