Ich rase am Morgen in Eile mit dem Rad durch die Roßkastanienallee, vor mir knallen die Früchte der hohen Bäume auf den staubigen Boden, ich weiche ihnen erst aus und halte schließlich an. Die frisch gefallenen Kastanien leuchten im frühen Sonnenlicht, an einem dieser magischen Tage, an denen der Sommer dem Herbst die Hand reicht. Ich hebe eine Kastanie auf, kugele sie in meiner Handfläche. Die glatte Schale ist geschmeidig, ich bücke mich zur nächsten Frucht. Nach einer Weile, gedankenleer aus der messbaren Zeit gefallen, berühre ich im Spiel mit der Natur meine eigene Natur. Leicht und froh steige ich wieder aufs Fahrrad und bin offen für das, was mir der Tag noch schenken mag.
Verwirrt, verwurschtelt, verdreht, verrückt – die Stürme der Nacht toben weiter in meinem Kopf und Körper. Am besten ist’s wahrscheinlich, mich der Windin zu überlassen, ohne gleich davonzufliegen.
Schwarzmondin, Fest der Dunkelheit. Loslassen, ins Unsichtbare fallen. Die weise Alte wartet auf Zutaten für den magischen Trank, den sie im Kessel der Transformation braut. Es gibt nichts zu tun, außer das Gefäß zu füllen. Mit unseren Mustern und unseren Träumen, mit unseren Wünschen und unserem Schmerz, mit unserer Todesangst und unserer Lebensfreude. Alles versinkt im Verborgenen, im Nicht-Wissen, im Geborgenen, im Meer der Erinnerung. Die Erde gibt ihr Salz dazu, das Feuer einen tiefroten Wein, das Wasser die Tränen der Kinder und die Luft den Atem der Ahnen. „Vertraue“, flüstert die Alte. Was kommen mag, köchelt leise dort, wo das Neue entsteht: in der Leere des kreativen Chaos. Unsichtbar. Für eine Weile.
Im August geerntet, sind die Blätter am heilkräftigsten
Wäre der Salbei ein Mensch, er wäre eine starke Frau, sagt die eine Kräuterkundige. Wäre der Salbei ein Mensch, er wäre ein alter Magier in blauviolettem Mantel mit silbergrauem Haar, meint die andere. Beides und nichts mag der Wahrheit entsprechen. Die Bilder, die wir uns schaffen, mögen immer nur Ausschnitte erfassen von dieser großen Schamaninnenpflanze, deren Sein über menschliche Zuordnungen hinausgeht. Was wir beschreiben können, ist ihre Heilkraft, zumindest einen großen Teil davon. Es gibt kaum Alltagsbeschwerden, die wir nicht mit Salbei behandeln können.
Als Tee aus frischen oder getrockneten Blättern hilft er bei
Entzündungen jeder Art, bei Erkältungen, Halsschmerzen, bei Kreislaufschwäche, bei
nächtlichem Schweißausbruch, und er ist allgemein kräftigend. Frauen ist er ein
unterstützender Begleiter vom Beginn der Menstruation über den (unerfüllten)
Kinderwunsch bis in die Wechseljahre. Er stärkt das Gehirn, erhöht die
Konzentration beim Lernen oder bei Prüfungen und wirkt gegen Gedächtnisverlust.
Geräuchert und im Pflanzenwasser reinigt der Salbei Menschen
und Räume. Er steht zur Seite, um bei
inneren Prozessen, Übergängen und Zeiten des Wandels bei sich bleiben zu
können.
Die Vielseitigkeit mancher Heilpflanze lässt uns einerseits staunen und andererseits oft überfordert fragen, ob sie im konkreten Fall wirklich die Richtige ist. Da kann es von Vorteil sein, die Bücher beiseite zu legen und an den Blättern des Salbeis zu riechen, mit den Fingern über die behaarte Oberfläche zu streichen und sich einfach einen Tee zu brauen.
Noch ein Weg kann sein, sich den Grundcharakter einer
Pflanze bewusst zu machen. Der Salbei ist ein Kind des heißen Südens. Aus dem
östlichen Mittelmeerraum gelangte er im Mittelalter in unsere Gärten. Er
besitzt die Kraft des Feuers, die jetzt im August am stärksten ist. „Weise“, „sage“,
ist der englische Name des Salbeis. Ein weises Erdenwesen ist er allemal. Und wirklich
weise ist, wer mit den Lebenskräften angemessen umzugehen lernt. Die Feuerkraft
kann wärmen und verbrennen, inspirieren und transformieren, die Liebe ebenso nähren
wie die Wut.
Der Salbei lehrt uns, genau zu schauen, welches Maß an Feuer wir entsprechend unserer Aufgabe und unseres Alters nutzen können und sollen. Die Warnung gegen Maßlosigkeit liefert er gleich mit: Das in ihm enthaltene Nervengift Thujon kann bei Überdosierung zu Herzrasen, Krämpfen und Lähmungserscheinungen führen.
Wäre der Salbei ein Mensch, dann wäre er ein Magier und eine weise Frau, deren Leitspruch lautet: Erkenne dich selbst, finde das Maß, tu was du willst und schade niemandem.
Die oben zitierten Kräuterkundigen sind Susanne Fischer-Rizzi und Ursula Gerhold. Die Weisheit des Salbeis, das Feuer im rechten Maß zu nutzen, gab mir Ursula Gerhold weiter.
Standhalten oder mitgehen, loslassen oder festhalten, sich wehren oder sich hingeben: Die satten Wiesen, durch die der Wind bläst, kennen kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch. Die Grashalme und Wildblumen biegen sich in einem gemeinsamen Tanz, sie fließen dahin, überlassen sich dem Sturm und bleiben doch fest verwurzelt stehen in den steilen Berghängen.
Der Widerspruch zwischen standhalten und mitgehen löst sich auf. In dem Bewegen und gleichzeitigem Stehenbleiben ist es, als ob die Wiesen Energie im Hier und Jetzt aufnehmen, ihren Teil behalten und das Meiste einfach weitergeben. Es ist, als ob sich ein Strom ergießt über die Kuppen der Hügel und hinauffließt in die oberhalb thronende geheimnisvolle Bergwand.
Die Bergwand betrachte ich lange und immer wieder – ohne Ziel, ohne Grund, ohne Absicht. Sie zieht mich in ihren Bann in ihrer Unerschütterlichkeit und Mächtigkeit, in ihrer Stille und Unergründlichkeit. Ich denke nicht, ich schaue. Mein Kopf darf leer werden, was mir Angst machen kann und im Moment einfach nur befreiend ist. Ich sehe. Die ruhigen Berge, die wogenden Wiesen, die rauschenden Bäume, den Bach im Tal und das Hausrotschwanz-Pärchen über mir, das seine Jungen füttert. Und wenn ich mich zur gegebenen Zeit bewegen werde, dann will ich dabei gut verwurzelt sein.
Die Nacht zum ersten Mai, das ist
Beltane, das Fest des leuchtenden Feuers. Des eigenen leuchtenden
Feuers, des Feuers der Sonne, des Feuers der Erde und des Feuers der
Liebe, die alles und alle verbindet. Was die Kirche zum Hexentreiben
mit dem Teufel gemacht hat, ist der leidenschaftliche Tanz der
schöpferischen wilden Frauen mit den Kräften der Erde.
Dieser Tanz kann auf vielerlei Arten
getanzt werden: wild oder langsam, stürmisch oder vorsichtig, nach
innen gewandt oder nach außen explodierend, allein oder in der
Gemeinschaft. Immer ist es ein Tanz des Körpers. Er steht im
Mittelpunkt, wird genährt, verwöhnt, geweckt, gestreichelt,
gespürt, geliebt. Und immer ist es ein Tanz, der die eigenen Grenzen
und Möglichkeiten beachtet. Liebe beginnt mit der Liebe zu sich
selbst, hört damit nicht auf und führt zu einem Tanz mit dem Feuer
der Veränderung.
Leg dich in die Wiese und stell dir
vor, das Feuer der Erde weckt jede deiner Zellen.
Spring mit vertrauten Menschen übers
Feuer und wünsche dir für dich, deine Liebsten, die Welt ein paar
Sterne vom Himmel.
Tanze, trommele, singe aus vollem
Herzen.
Lass dich massieren und schenke den
Zauber der liebevollen Berührung anderen.
Koche dir und/oder Freundinnen etwas
Leckeres und danke dem Universum für all die Zutaten.
Gehe zu einem Platz in der Natur und
schreie deine Wut hinaus.
Gehe zu einem Platz in der Natur und
verbinde deinen Körper mit dem Körper der Erde.
All das kannst du ausprobieren im Laufe des Monats Mai – auch, wenn du ein Mann bist. Schau, wie du dich selbst immer mehr spürst und mit deiner Feuerenergie in Schönheit in die Welt gehen kannst.
Das Löwenmäulchen entfaltet seine Blüte in ihrer vollen Pracht.
Es regnet – sanft, leise, so als ob der Regen sich nach langer Abwesenheit wieder vorsichtig auf dieses Stückchen Erde heruntertasten wolle. Ich lächelte, als ich mir heute morgen beim Radfahren die Kapuze über den Kopf zog. Oft erst, wenn etwas fehlt oder umgekehrt im Übermaß vorhanden ist, wird uns die Bedeutung dieses Etwas bewusst. Bei sich leerenden Flüssen und Seen sehnen wir das Wasser von oben herbei, das uns bei Fluten und Gewitterstürmen lebensbedrohlich werden kann und das wir bei regelmäßigem Dasein als eher lästig empfinden, wenn wir keinen eigenen Garten oder Acker zu bestellen haben.
Zurzeit werden auch wir Stadtkinder an die Kraft des Regens erinnert. Ich suche in meinem Motherpeace-Tarot nach der Karte der Zehn Kelche. Darauf freut sich eine Gemeinschaft über den Regen, der die Samen auf ihren Feldern aufgehen und die Früchte wachsen lassen wird. In der Verbundenheit mit den kosmischen Gesetzen ist es den Menschen gelungen, den Regen herbeizurufen. Dafür danken sie. Nichts ist selbstverständlich und alles ist möglich.
Ich rausche mit meinem Rad durch eine Pfütze. Freue mich und sage danke.