Ich muss nichts. Ich kann einfach nur leben. Die Federn des Raben schimmern im Herbstsonnenlicht. Das Blau im Schwarz lockt mich in die Leere, die voller Magie, nichts und alles ist. Die Ernte des Sommers werde ich mitnehmen. Ich schalte das Smartphone aus. Ein kleiner Kristall liegt in meiner Hand. Botschaften aus einer neuen, alten Welt versuchen mich zu erreichen. Ich überlasse mich der Dunkelheit und dem Licht. Dem Leben auf der sich wandelnden Erde.
Optimismus, habe ich gelesen, heißt, zu glauben, alles werde gut. Hoffnung bedeutet, zu wissen, dass letztlich alles einen Sinn hat.
Die heilmächtigen Frauen folgten den Krötenpfaden auf der Suche nach der Medizin der Natur. Im Dunklen, Wässrigen, Schleimigen der Sümpfe und Moore hoben sie Schätze und verbargen sich vor denen, die nach einer anderen Art der Macht strebten.
Verborgen mag auch heute Vieles sein, Verstecken ist ein Spiel für Kinder. Was uns Angst machen soll, können wir wieder als ureigene Verbündete erkennen: das Feuchte, das unsichtbare Unheimliche, das Sumpfige trägt den Samen des Erdenlebens und lässt ihn keimen und wachsen zur gegebenen Zeit. Das strahlende Licht im Außen gibt sich jetzt bescheiden in Respekt vor dem gebärenden Dunkeln im Inneren.
Aufgetaucht aus der feuchten Erde, sattgrün leuchtend im geheimnisvollen Halbschatten, lässt er sich nicht schrecken von eisigen Nächten: Der Bärlauch zeigt sich, um das Leben zu nähren. Er ist ein Kind der Dunkelheit, des Nichts, erschaffen im Gestaltungsraum des inneren Leuchtens, in dem nichts ausgeschlossen und alles möglich ist.
Ich beuge mich hinunter zu den Blättern, pflücke sie einzeln, unter meine Fingernägel legt sich ein grünbrauner Rand. Mutter Erde.
Mit dem sanften, hoffnungsvollen Wintersonnwendlicht gehen wir in die Zeit zwischen den Jahren. Es ist eine geschenkte Zeit, die dankbar beachtet werden will. Denn jetzt, da wir wissen, dass das Licht wieder wachsen wird, um Visionen, Projekte, schlicht das Leben zu nähren, meldet sich noch einmal die Dunkelheit und schickt ihre wilden Geister aus. Vor ihnen davonzulaufen ist keine gute Idee, still zu werden, nichts zu tun, nach innen zu lauschen dagegen schon. Die Raunächte, entstanden aus der Differenz zwischen Mond- und Sonnenjahr, öffnen uns das Fenster zu einer verwirrenden, pulsierenden, schöpferischen Anderswelt, in der wir das Neue träumend planen können.
Die ungezähmten Kräfte in uns und um uns herum wollen es dabei genau wissen: Wer bist du? Was trägt dich? Für was willst du stehen und wirken? Was bist du bereit zu geben – für dich, die Gemeinschaft, die Erde? Was kannst du nehmen vom reichen Schatz des Universums? Welches sind deine Ängste, und gibst du ihnen den gebührenden Platz, damit sie nicht übermächtig werden? Die wilden Geister rütteln dich wach fürs neue Jahr und ziehen mit lautem Getöse weiter. Du hast nichts zu fürchten. Das Licht braucht die Dunkelheit, um zu leuchten.
Die Raunächte beginnen üblicherweise mit der Nacht vom 24. auf den 25. Dezember und enden am 6. Januar. Es sind Orakelnächte und -tage, in denen du auf Zeichen in der Natur, besondere Vorkommnisse und deine Träume achten kannst. Eine Möglichkeit ist, für jede Nacht eine Tarotkarte zu ziehen, entweder für bestimmte Fragen, die dich bewegen oder für die nächsten zwölf Monate und die dreizehnte als Karte für das gesamte Jahr oder den Übergang ins kommende. Ein Raunächte-Tagebuch kann dich gut durchs Jahr begleiten.
Die Raunächte sind auch eine gute Zeit zum Räuchern, vielleicht hat das Wort sogar hier seinen Ursprung. Mit dem Räuchern können wir Altes, Belastendes, nicht mehr Notwendiges loslassen, um frei zu werden für Neues. Das Räuchern im Winter ist zudem eine Möglichkeit, sich mit den Kräften und Qualitäten der Pflanzen zu verbinden, wenn sich die Natur im Außen zurückgezogen hat.
In einer langen Reihe stehen die Ahnen hinter mir. Meine Eltern, meine Großmütter und meine Großväter… die Namen verblassen, die Gesichter verschwimmen, die Linie windet sich hinein in mythische Zeiten. Sie verwandelt sich in eine mächtige Wurzel in die Erde, sie hält mich und sie erinnert mich. Ihre Liebe und ihre Weisheit sind grenzenlos – bei allem Schmerz, bei allem Leid. Trauer und Freude vereinen sich in einem behutsamen Tanz von Tod und Leben. Im Dunkeln schicken winzige Funken ihr Licht durch die Schleiher von Tränen und Wut. Die Ahnen führen mich ins Land ihrer Träume. Sie kennen den Weg ins Land meiner Seele. Sie wissen um ihre und meine Natur, die ich mehr und mehr er-ahnen kann.
Die Königskerze vor meinem Fenster ist eine Überlebenskünstlerin. Scheinbar längst verblüht, sprießen auch jetzt noch immer wieder neue gelbe Blüten aus ihrem Stängel. Sie verströmt ihr inneres Licht über den Sommer hinaus. Ich sehe ihre Leuchtkraft und denke an die Geschichte von Frederick, der Sonnenstrahlen, Farben und Worte sammelt. Die Feldmaus legt einen ganz besonderen Vorrat für den Winter an. Mit dem Licht, das Frederick (auf-)bewahrt, nährt und wärmt er die Herzen an trüben und kalten Tagen.
Das tut auch die Königskerze. Sie hilft zudem, wenn die eigene Stimme abhanden kommt und das innere Licht vom äußeren Nebel verschluckt zu werden droht. Auch die eigenen Farben wollen in die dunkle Zeit mitgenommen werden.
Schwarzmondin, Fest der Dunkelheit. Loslassen, ins Unsichtbare fallen. Die weise Alte wartet auf Zutaten für den magischen Trank, den sie im Kessel der Transformation braut. Es gibt nichts zu tun, außer das Gefäß zu füllen. Mit unseren Mustern und unseren Träumen, mit unseren Wünschen und unserem Schmerz, mit unserer Todesangst und unserer Lebensfreude. Alles versinkt im Verborgenen, im Nicht-Wissen, im Geborgenen, im Meer der Erinnerung. Die Erde gibt ihr Salz dazu, das Feuer einen tiefroten Wein, das Wasser die Tränen der Kinder und die Luft den Atem der Ahnen. „Vertraue“, flüstert die Alte. Was kommen mag, köchelt leise dort, wo das Neue entsteht: in der Leere des kreativen Chaos. Unsichtbar. Für eine Weile.