Work-Life-Balance absurd

Bärlauchblüten leuchten im Halbschatten

Das Leben passiert, während wir versuchen, es zu planen, vorherzusehen, zu regulieren, zu kontrollieren. Mag sein, dass der eine oder die andere irgendwann mal inne hält und sich erinnert an das, was da eigentlich alles war. In der Zeit, wo er, sie keine Zeit hatte. Gedanken tauchen auf über das, was ist, während ich darüber sinniere, was alles hätte sein können. Während ich mir über meine Work-Life-Balance Sorgen mache. Und plötzlich merke, wie absurd es ist, Arbeiten und Leben zu trennen.

Gerade jetzt zeigt uns die Natur – zu der wir ja dazugehören – wie selbstverständlich sich Leben gestaltet, neu erschafft, aus dem nährenden Dunkel ans Licht kommt. Möglicherweise können wir die Welt verändern allein dadurch, dass wir uns auf die Seite des Lebens stellen und uns den Kräften der Zerstörung verweigern.

Gesichert abstürzen

Um loszulassen, braucht es Vertrauen und Zuversicht. Eine starke kleine Pflanze kann dabei äußerst hilfreich sein: der Kriechende Günsel. Anders als sein Name nahelegt, steht er blau-violett blühend sehr gerade aufgerichtet auf artenreichen Frühlings- und Sommerwiesen. Unter der Erde allerdings geht er weit verzweigt in die Tiefe – und nimmt dich mit, wenn du willst. Lass dich fallen, sagt er. Ganz unten bist du bei dir angekommen und kannst dich mit einem Schatz im Gepäck an den Wiederaufstieg machen.

Die Schätze, die es in den Märchen zu finden gilt, sind meist nichts anderes als Symbole für das eigene authentische Sein in Verbundenheit mit einer Quelle der Fülle. Um diesen Schatz zu entdecken, heißt es, mutig zu sein. Vorgezimmerte Wahrheitsgerüste könnten unter dir zusammenbrechen.

Die Anspannung, die wir aufwenden, um nicht abzustürzen, mag uns vom Leben abhalten. Der Günsel hilft beim Fallen, indem er die Erstarrung löst. Die beschriebenen medizinischen Eigenschaften des Günsels scheinen nahezu grenzenlos. Wie immer geht es darum, da zu heilen, wo die Energien in unserem Körper aus dem Gleichgewicht geraten sind, bei Entzündungen, Vergiftungen, inneren und äußeren Wunden, Schmerzen, Wechseljahrsbeschwerden, Stoffwechselstörungen, Ängsten, Anspannungen…

Mach dir einfach erstmal eine Tasse Tee mit einem frischen, blühenden Stängel. Die Farbe des Wassers bringt dich vielleicht zum Staunen. Dann lass dich auf den Günsel ein oder lass ihn los.

Leuchten im Halbschatten

Der Bärlauch schenkt uns nach dem Winter viel grüne Kraft

Aufgetaucht aus der feuchten Erde, sattgrün leuchtend im geheimnisvollen Halbschatten, lässt er sich nicht schrecken von eisigen Nächten: Der Bärlauch zeigt sich, um das Leben zu nähren. Er ist ein Kind der Dunkelheit, des Nichts, erschaffen im Gestaltungsraum des inneren Leuchtens, in dem nichts ausgeschlossen und alles möglich ist.

Ich beuge mich hinunter zu den Blättern, pflücke sie einzeln, unter meine Fingernägel legt sich ein grünbrauner Rand. Mutter Erde.

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Die Angst heilen

„Herz der Erde“ wird sie in Nordamerika genannt: die kleine Braunelle

Ich radle durch die Stadt und freue mich über die Wildblumenwiesen, die zwischen Straßenzügen und entlang von Häuserzeilen wachsen können. Schon beim Anschauen fühle ich die Heilkraft der Pflanzen. Als bunte Gemeinschaft und als einzelne Kräuter öffnen sie sich mir und gehen unmittelbar in Kommunikation. Eine duckt sich im hohen Gras und will bewusst wahrgenommen werden: die kleine Braunelle, eine liebevolle Heilerin mit einer Macht, die groß ist und leicht zu übersehen.

Self Heal heißt die kleine Braunelle auf Englisch. Sorge für dich, achte auf deine Bedürfnisse und erkenne deine Kräfte und Möglichkeiten, sagt sie. Die passende Medizin findest du, wenn du die Verantwortung für dich und deine Gesundheit bei dir behältst. Du bist dir am nächsten und weißt am besten, was du brauchst. Nebenbei helfe ich dir, dem ins Auge zu schauen, was dich daran hindert, in Harmonie mit dir und deiner Umgebung zu sein: der Angst.

Die Braunelle nahm ich zum ersten Mal wirklich wahr im Sommer 2019. Ohne konkreten Anlass setzte ich eine Tinktur an. Die Medizin ruhte zunächst in einer Kiste – bis ich dieses Frühjahr eine intensive Begegnung mit Lady Corona hatte. Da meldete sich die kleine Wildpflanze mit Nachdruck und war mir eine wunderbare Begleiterin.

Die kleine Braunelle wächst in großen Gruppen. Trotzdem oder gerade deswegen achte darauf, wieviel davon für dich bestimmt ist. Ich empfinde die Gruppen durchaus als Familien, von denen sich einzelne Mitglieder gerne verschenken, die allerdings als System intakt bleiben wollen.

Licht (auf-)bewahren

Die Königskerze sendet immer noch kleine Lichtstrahlen

Die Königskerze vor meinem Fenster ist eine Überlebenskünstlerin. Scheinbar längst verblüht, sprießen auch jetzt noch immer wieder neue gelbe Blüten aus ihrem Stängel. Sie verströmt ihr inneres Licht über den Sommer hinaus. Ich sehe ihre Leuchtkraft und denke an die Geschichte von Frederick, der Sonnenstrahlen, Farben und Worte sammelt. Die Feldmaus legt einen ganz besonderen Vorrat für den Winter an. Mit dem Licht, das Frederick (auf-)bewahrt, nährt und wärmt er die Herzen an trüben und kalten Tagen.

Das tut auch die Königskerze. Sie hilft zudem, wenn die eigene Stimme abhanden kommt und das innere Licht vom äußeren Nebel verschluckt zu werden droht. Auch die eigenen Farben wollen in die dunkle Zeit mitgenommen werden.

Wilde Früchte des Waldes

Heidelbeer-Genuss pur

Die Welt ist bunt, voller faszinierender Farben. Eine davon ist die der wilden Heidelbeeren, mit deren Saft ich beim Sammeln die Hände in blau-rote Töne tauche. Zwischen den Büschen auf dem feuchten, Moos bedeckten Erdboden stehend, lasse ich die Beeren in meinen Mund perlen und fühle mich verbunden mit der Kraft der unbeschwerten Natur. Nichts ist schwarz oder weiß. Ich schließe die Augen, um mich ganz dem Geschmack der Früchte des Waldes zu überlassen. Goldene Lichtfunken tanzen hinter meinen Lidern durch die Dunkelheit.

Sommersonnwende

Das Johanniskraut speichert das Sommersonnenlicht

Die Fülle stößt auf die Angst
und will sie behutsam in den Arm nehmen.
Die Angst will nicht gekuschelt werden.
Die Fülle geht auf Abstand.
Und bleibt. Weil sie ist.

Die Leidenschaft trifft auf die Traurigkeit
und will sie zum Tanzen bringen.
Die Traurigkeit will ihre Ruhe.
Die Leidenschaft geht auf Abstand.
Und bleibt. Weil sie gebraucht wird.

Berührbar

Alles an der Linde ist gut und schön, weich und süß. Sie ist der Baum des Glücks und des Wohlergehens. Sie verwöhnt die, die bei ihr weilen und steckt sie an mit ihrer grenzenlosen Liebe. Wer das Kämpfen gelernt hat, das Leisten und das Konkurrieren, dem können die schwülstigen Lobeshymnen auf diesen edlen Baum ziemlich auf die Nerven gehen. Doch ein Spaziergang an einem warmen Frühsommertag entlang einer Lindenallee, der betörende Duft des überfließenden Nektars in den Blüten, das Summen unzählbarer Bienen und das Spiel des überirdisch reinen Lichts mit den herzförmigen Blättern haben die Kraft, die härtesten Panzer zu schmelzen.

Die Sage um Siegfried, der den Lindwurm, den nährenden, schützenden Erddrachen tötet, um Unsterblichkeit zu erlangen, beschreibt die Qualität der Linde. Als Siegfried im Blut des Drachens badet, fällt ihm ein Lindenblatt zwischen die Schulterblätter. Damit behält der Held eine verwundbare Stelle. Er bleibt berührbar für die Liebe und verletzlich, was ihm die Sterblichkeit bewahrt und ihn einbindet in den Zyklus des Lebens.

Die Linde ist wie der Holunder mit der großen Göttin verbunden – mit der Holle, Freya, Aphrodite, Venus, die die Menschen lehrten, das Leben liebend zu leben. Der mächtige Baum mit seiner ausladenden Krone wurde immer als Versammlungsort geschätzt. Er war Richtstätte, da er sanft, doch klar die Wahrheit ans Licht zu bringen vermochte, er war Tanz- und Festplatz, ein Platz der Gemeinschaft und Kommunikation aller Art mitten im Dorf oder vor dem Hof.

Die einnehmende, zarte, liebe- und lichtvolle, entspannende und Herz öffnende Aura der Linde weist auf ihre enorme Heilkraft hin. Die Lindenblüten helfen bei Fieber, Husten und Erkältungskrankheiten, bei Kopfschmerzen, Stress, Nervosität und Schlaflosigkeit, bei Blähungen, Sodbrennen und Darmerkrankungen. Die Liste ist lang und immer unvollständig.

Alle großen Heilerinnen und Heiler aus der Welt der Bäume und Wildkräuter sind in ihrer Komplexität schwer zu erfassen. Nicht nur die einzelnen, wissenschaftlich nachweisbaren Wirkstoffe zeigen Wirkung. Ihre eigentliche Kraft entfaltet die Pflanze in ihrer geheimnisvollen Gesamtkomposition, die nicht bis ins Letzte seziert werden will und kann. Wen oder welche sie im Herzen berührt, für die oder den ist sie eine heilsame Begleiterin.

Lindenblütentee
Der Klassiker. Vor allem in der kalten Jahreszeit heiß getrunken, lindert er Erkältung, Husten, Schnupfen, Grippe und Bronchitis. Er macht Kopf und Brust frei und stärkt das Immunsystem. Mit dem Tee getränkte Kompressen helfen bei entzündeten und müden Augen.

Die Blüten mit den Flügelblättern sammelst du am besten an einem trockenen Vormittag im Juni oder Juli spätestens am vierten Tag nach dem Aufblühen. Ernte mit Bedacht und bedanke dich bei dem Baum, den Bäumen. Auf einem Leinentuch gut ausgebreitet kannst du die Blüten an einem luftigen, schattigen Ort trocknen. In dunklen, gut verschließbaren Gläsern nicht länger als ein Jahr aufbewahren.

Sommerbowle
ein bis zwei Tassen Blüten in einem Liter Apfelsaft drei bis fünf Stunden ziehen lassen, Saft von ein bis zwei Limetten dazugeben, nach Geschmack mit Mineralwasser auffüllen.

Zahnpulver
1 Teil Lindenkohle, 1 Teil Salbeiblätter, mörsern und mischen. Etwas davon auf die Zahnbürste geben und das Zahnfleisch sanft massieren. Reinigt, desinfinziert und stärkt das Zahnfleisch.

Das Leben ist ein Fest

Der Holunder strahlt im Licht des Lebens

Frau Holle im Holunder schüttelt ihre weißen Blüten-Sterne aus und zaubert einen unvergleichlich süß-herben Duft übers märchenhafte Frühlingsland. Sie hält die, die zwischen den Welten schweben, absturzgefährdet und fürs Neue bereit. Sie kennt keine Gegensätze – und keine Zeit. Vor allem die Zukunft, die zu beherrschende, gestaltende, ist ihr suspekt, denn sie liebt das Chaos, das Ungeplante, den Zustand sprühender Möglichkeiten jenseits beschränkter Vorstellungskräfte.

„Seelen, die zu sterben fürchten, sie werden niemals leben“: Die Zeilen aus einer deutschen Version des wunderschönen Liedes „The Rose“ könnten von der Göttin im Holunder stammen. Sie, die sich zeigt in den jungen weißen Blüten wie in den rot-schwarzen Früchten und dem knorrigen alten Baum, verbindet den Anfang mit dem Ende in der Spirale des Lebens. Sie lacht über die, die das farbenfrohe Sein auf der Erde zu einem Wettlauf mit der konstruierten Zeit und zum aussichtslosen Kampf gegen den Tod machen wollen. Das Leben als zu planende, zu sichernde, zu verlängernde Frist hat für sie keinen Wert. Das Leben der Frau Holle ist ein Fest voller überraschender Geschenke. Nichts und niemand ist ausgeschlossen. Auch der Tod feiert mit.

Mit der Holunderdame kannst du dich bekannt machen, indem du dich unter einen Strauch setzt und mit dem Duft der Blüten atmest. Mit einer Blütendolde kannst du auch dein Trinkwasser für den Tag aromatisieren.

Löwenzahn-Kraft

Löwenzahn und Knoblauchrauke

Kinder haben sich eine Natur-Weisheit bewahrt, die wir Erwachsenen uns oft wieder erschließen müssen. Ein bitteres Kraut ist eine ihrer Lieblingsblumen. Spielerisch verbinden sie sich mit der Kraft der Wildpflanze, basteln gelbe Blütenketten, trompeten mit den breiten Stängeln oder bauen mit ihnen Wasserleitungen, verwandeln sich mit Kränzen in Zauberfeen, kleben sich mit dem weißen Milchsaft Gänseblümchen-Schmuck ans Ohr und pusten die silberweißen Samen in die Welt. Kinder sehen das, was ist und machen was daraus.

Den Löwenzahn in den Mund zu nehmen, könnte schon als echte Mutprobe gelten. Furchtbar bitter schmecken Blätter, Stängel, Blüten. Doch auch diese Erfahrung gehört zum Kennen- und Schätzenlernen dazu. Bitter heißt: Geh achtsam mit mir um, ich könnte giftig sein. Der Löwenzahn verlangt, das rechte Maß im Auge zu behalten, denn bitter heißt auch: Ich bin eine starke Medizin. Was uns nicht mehr gut tut, also giftig ist, ist meist eine Frage der Dosis.

Der Löwenzahn will in seiner beeindruckenden Vielfalt wahrgenommen werden. Die strenge Bitterkeit gehört ebenso zu ihm wie die strahlend-gelben Blütensonnen, die robuste Wurzel zeigt seine Qualität wie die zarten Samen. Mit Namen, Aussehen und Geschmack lässt sich schon viel über den Löwenzahn erfahren.

Die US-amerikanische Kräuterkundige Susun Weed hat dem Löwenzahn den Titel Doktor Selbstheilung gegeben. Wildkräuter unterstützen uns dabei, die Verantwortung für unsere Gesundheit in die eigenen Hände zu nehmen. Für die Kontaktaufnahme braucht es nicht viel. Selbst in der Stadt wachsen Löwenzahn und Co. Die einfachste Art des ersten Kennenlernens ist, die Pflanze zu betrachten, zu befühlen und etwas von ihr zu probieren. Es gibt zahlreiche, sehr leckere Rezepte für Speisen mit Wildkräutern. Am einfachsten ist es, sich im Frühling einen frischen Salat zu machen. Es versteht sich von selbst, dass ihr nur die Pflanzen sammelt, die ihr eindeutig bestimmen könnt und dass ihr nur soviel nehmt, wie ihr essen wollt. Es muss nicht viel sein, um sich mit der Pflanze und ihren Kräften anzufreunden.

Nicht selten kommt es vor, dass mir eine bestimmte Pflanze bei meinen Frühlingsspaziergängen immer wieder begegnet. Ich nehme es als Zeichen dafür, dass sie für mich im Moment von besonderer Bedeutung ist. Die Heilkraft der Wildpflanzen hat viele Facetten und Erscheinungsformen, und Doktor(in) Selbstheilung sind sie auf ihre Art alle.