Wenn Hunde schnüffeln, sagt mir jemand, lesen sie Zeitung. Sie nehmen dabei jede Menge Informationen auf. Allerdings bekommen die Hunde die Nachrichten aus erster Hand. Sie nehmen direkt wahr. Also, wie wäre es, statt einem Buch einmal die Erde zu lesen.
Die Holunderblüten beginnen zu strahlen. Dieser wunderbare Baum vor der Haustür ist mutige Vorreiterin, mächtige Heilerin, große Göttin… Ihre Blätter entfaltet sie früh, alles an ihr ist Medizin, und kaum eine andere Pflanze in unseren Breitengraden zeigt uns die Aspekte des Lebens in ihrer Vielfalt so wie sie. Also werde ich den Holunder lesen.
Das Leben passiert, während wir versuchen, es zu planen, vorherzusehen, zu regulieren, zu kontrollieren. Mag sein, dass der eine oder die andere irgendwann mal inne hält und sich erinnert an das, was da eigentlich alles war. In der Zeit, wo er, sie keine Zeit hatte. Gedanken tauchen auf über das, was ist, während ich darüber sinniere, was alles hätte sein können. Während ich mir über meine Work-Life-Balance Sorgen mache. Und plötzlich merke, wie absurd es ist, Arbeiten und Leben zu trennen.
Gerade jetzt zeigt uns die Natur – zu der wir ja dazugehören – wie selbstverständlich sich Leben gestaltet, neu erschafft, aus dem nährenden Dunkel ans Licht kommt. Möglicherweise können wir die Welt verändern allein dadurch, dass wir uns auf die Seite des Lebens stellen und uns den Kräften der Zerstörung verweigern.
Wenn du meinst, du lebt in einer verkehrten Welt und die passende allmählich zu erahnen ist,
wenn dein Verstand dein Herz verschließen will und dein Herz selbst „öffne dich“ flüstert,
wenn Enge deinen Körper bedrängt und dein weiter Schritt dich zu befreien sucht,
wenn das Außen dich aufzuzehren droht und du um deine Kraftquelle im Innern weißt,
dann kann es gut sein, dass du diesen Irrsinn einigermaßen unbeschadet durch dich hindurchfließen lassen kannst.
Ich denke an einen Aufruf der Hopi:
Da ist ein Fluss, der fließt jetzt sehr schnell. Er ist so mächtig und reißend, dass einige Angst haben werden. Sie werden versuchen sich am Ufer festzuhalten und werden fühlen, daß sie zerrissen werden. Und sie werden beträchtlich leiden.
Wisse, dass der Fluss seine Bestimmung hat. Die Ältesten sagen, wir müssen vom Ufer loslassen und in die Mitte des Flusses stoßen, unsere Augen offenhalten und unsere Köpfe über dem Wasser.
Und sie sagen:
Schaue, wer da mit dir ist und feiere. In dieser Zeit der Geschichte dürfen wir nichts persönlich nehmen, am allerwenigsten uns selbst. Denn in dem Moment, wo wir dies tun, kommt unser inneres Wachstum und unsere Reise zum Stillstand.
Die Zeit des einsamen Wolfes ist vorbei.
Kommt zusammen, verbannt das Wort „Mühsal“ aus eurer Haltung und eurem Vokabular. Alles was wir jetzt tun, muss auf eine heilige Art und Weise getan werden und im Feiern.
Versöhnung könnte auch eine weibliche Form haben: Vertöchterung. Beides meint, dass wir nach-geben im Bewusstsein des Gemeinsamen über Grenzen hinweg: Wir sind Söhne und Töchter einer Erdenfamilie. Ohne Versöhnung ist Frieden unmöglich. Erkämpft werden kann er nicht. Wenn Frieden ist, sind längst die Waffen aller Art niedergelegt. Dann gibt es nur noch Sieger – oder am besten gar keine mehr.
Laut dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist das Wort „Sieger“ übrigens „im allgemeinen den älteren dialecten fremd“.
„Das Kommende lässt sich nicht sagen. Erst, wenn es da ist, findet es die Sprache, sich selbst zu benennen“, sagte einmal die weise Schamanin Ute Schiran. Unser Gehirn ist auf vielerlei Arten mit unseren anderen Körperteilen verbunden. Vielleicht steht es an, dem Verstand vom Bauch und vom Schoß, von den Augen und den Händen, von der Leber und der Galle neue Signale zu schicken, die er zur gegebenen Zeit übersetzen kann. Also lernen wir jetzt, da der Worte zuviel und zu wenig sind, unseren Körper besser kennen. Was wünscht sich das Herz, welche Bedürfnisse hat der Darm, was tut den Füßen gut. Was bringt unsere Hüften zum schwingen und unsere Nase zum sich öffnen. Wie lachen unsere Augen und schmeckt unser Mund…
„The river ist flowing, flowing and growing…“ Ich blicke über das Geländer der Rheinbrücke in den reißenden Strom und singe leise zum erdbraun getönten Wasser. „…The river is flowing back to the sea. Mother Earth, carry me, your child I will always be, Mother Earth, carry me back to the sea“.
Ich wünschte, die Fluten rissen uns aus dem Glauben, wir Menschen könnten dem Lebensfluss Regeln und Grenzen setzen.
Die Amsel zwitschert, tönt, unterhält sich, kommuniziert von erhobener Position im Innenhof. Für mich ist es die Amsel, nicht mehr nur irgendeine Amsel, weil ich ihr seit Tagen zuhöre und sie mir vertraut geworden ist. Unbeschwert, leicht, ausgelassen, erregt: Mit Worten aus meinem begrenzten menschlichen Beschreibungsschatz deute ich ihre Laute. Im Grunde genommen weiß ich nichts. Heute zum Beispiel frage ich mich, ob es unter den Amseln auch Korrektheits-Deuter*innen gibt, also solche, die sie loben für oder sich aufregen über das, was sie mitzuteilen hat oder was gerade so aus ihr heraussprudelt. Der Gedanke, es könnte so sein, kommt mir völlig abwegig vor. Löschkultur bei Amseln? Eine Amsel ist eine Amsel ist eine Amsel… Ein Mensch ist ein Mensch ist ein Mensch… bevor er in Schubladen eingeordnet wird. Sich zu unterhalten, zu kommunizieren ist von dort aus kaum mehr möglich.
Wie die frischen Blätter und Blüten der Lärche will sich das Neue zeigen, sehr zaghaft in diesem Jahr. Die Kräfte der Frühlingswärme und die der Winterkälte ringen lange miteinander. Behutsam abwarten, gewaltig explodieren. Sich besinnen, losstarten. Nicht zu laut sein, sichtbar werden. Demütig, mutig. Träumen, tun. Das Hin und Her, das Entweder-oder ist maßlos anstrengend. Da meldet sich das Sowohl-als-auch. Der entscheidende Impuls kommt nicht nur für die Lärchenblätter im universellen Finden der Balance.