Die Eichhörnchen jagen sich im Hinterhof ausgelassen einen Baum hoch und hinunter. Eine Amsel singt dazu ihr Morgenlied. Zwei Krähen schauen von einem alten Antennenmast auf die Welt, und der Himmel beginnt sich im Glanz der Sonne in sein unvergleichliches Blau zu färben. Die bewegten Bilder des Neubeginns lösen die Erstarrung.
Wildkräuter wachsen und warten darauf, uns zu stärken und zu nähren. Das lichte Grün der jungen Buchenblätter tauscht sich aus mit meinem Herzen. Vorsichtig streiche ich über den zarten Flaum eines Blattes. Ich berühre den Frühling, und der Frühling berührt mich.
Wäre der Salbei ein Mensch, er wäre eine starke Frau, sagt die eine Kräuterkundige. Wäre der Salbei ein Mensch, er wäre ein alter Magier in blauviolettem Mantel mit silbergrauem Haar, meint die andere. Beides und nichts mag der Wahrheit entsprechen. Die Bilder, die wir uns schaffen, mögen immer nur Ausschnitte erfassen von dieser großen Schamaninnenpflanze, deren Sein über menschliche Zuordnungen hinausgeht. Was wir beschreiben können, ist ihre Heilkraft, zumindest einen großen Teil davon. Es gibt kaum Alltagsbeschwerden, die wir nicht mit Salbei behandeln können.
Als Tee aus frischen oder getrockneten Blättern hilft er bei
Entzündungen jeder Art, bei Erkältungen, Halsschmerzen, bei Kreislaufschwäche, bei
nächtlichem Schweißausbruch, und er ist allgemein kräftigend. Frauen ist er ein
unterstützender Begleiter vom Beginn der Menstruation über den (unerfüllten)
Kinderwunsch bis in die Wechseljahre. Er stärkt das Gehirn, erhöht die
Konzentration beim Lernen oder bei Prüfungen und wirkt gegen Gedächtnisverlust.
Geräuchert und im Pflanzenwasser reinigt der Salbei Menschen
und Räume. Er steht zur Seite, um bei
inneren Prozessen, Übergängen und Zeiten des Wandels bei sich bleiben zu
können.
Die Vielseitigkeit mancher Heilpflanze lässt uns einerseits staunen und andererseits oft überfordert fragen, ob sie im konkreten Fall wirklich die Richtige ist. Da kann es von Vorteil sein, die Bücher beiseite zu legen und an den Blättern des Salbeis zu riechen, mit den Fingern über die behaarte Oberfläche zu streichen und sich einfach einen Tee zu brauen.
Noch ein Weg kann sein, sich den Grundcharakter einer
Pflanze bewusst zu machen. Der Salbei ist ein Kind des heißen Südens. Aus dem
östlichen Mittelmeerraum gelangte er im Mittelalter in unsere Gärten. Er
besitzt die Kraft des Feuers, die jetzt im August am stärksten ist. „Weise“, „sage“,
ist der englische Name des Salbeis. Ein weises Erdenwesen ist er allemal. Und wirklich
weise ist, wer mit den Lebenskräften angemessen umzugehen lernt. Die Feuerkraft
kann wärmen und verbrennen, inspirieren und transformieren, die Liebe ebenso nähren
wie die Wut.
Der Salbei lehrt uns, genau zu schauen, welches Maß an Feuer wir entsprechend unserer Aufgabe und unseres Alters nutzen können und sollen. Die Warnung gegen Maßlosigkeit liefert er gleich mit: Das in ihm enthaltene Nervengift Thujon kann bei Überdosierung zu Herzrasen, Krämpfen und Lähmungserscheinungen führen.
Wäre der Salbei ein Mensch, dann wäre er ein Magier und eine weise Frau, deren Leitspruch lautet: Erkenne dich selbst, finde das Maß, tu was du willst und schade niemandem.
Die oben zitierten Kräuterkundigen sind Susanne Fischer-Rizzi und Ursula Gerhold. Die Weisheit des Salbeis, das Feuer im rechten Maß zu nutzen, gab mir Ursula Gerhold weiter.
Standhalten oder mitgehen, loslassen oder festhalten, sich wehren oder sich hingeben: Die satten Wiesen, durch die der Wind bläst, kennen kein Entweder-oder, sondern nur ein Sowohl-als-auch. Die Grashalme und Wildblumen biegen sich in einem gemeinsamen Tanz, sie fließen dahin, überlassen sich dem Sturm und bleiben doch fest verwurzelt stehen in den steilen Berghängen.
Der Widerspruch zwischen standhalten und mitgehen löst sich auf. In dem Bewegen und gleichzeitigem Stehenbleiben ist es, als ob die Wiesen Energie im Hier und Jetzt aufnehmen, ihren Teil behalten und das Meiste einfach weitergeben. Es ist, als ob sich ein Strom ergießt über die Kuppen der Hügel und hinauffließt in die oberhalb thronende geheimnisvolle Bergwand.
Die Bergwand betrachte ich lange und immer wieder – ohne Ziel, ohne Grund, ohne Absicht. Sie zieht mich in ihren Bann in ihrer Unerschütterlichkeit und Mächtigkeit, in ihrer Stille und Unergründlichkeit. Ich denke nicht, ich schaue. Mein Kopf darf leer werden, was mir Angst machen kann und im Moment einfach nur befreiend ist. Ich sehe. Die ruhigen Berge, die wogenden Wiesen, die rauschenden Bäume, den Bach im Tal und das Hausrotschwanz-Pärchen über mir, das seine Jungen füttert. Und wenn ich mich zur gegebenen Zeit bewegen werde, dann will ich dabei gut verwurzelt sein.
Frau Holle im Holunder trägt ihr leuchtend-weißes Sternenkleid. Verwandlung ist ihre Kunst, die Liebe ihre Leidenschaft. Der Strauch und die in ihm wohnende Göttin geben ihre Heilkraft dem und derjenigen, der und die bereit ist, aus der Klarheit des Herzens heraus bedingungslos zu handeln. Wie Goldmarie im Märchen.
Frau Holle und ihr Hollerbusch dienen
dem Leben ganz und gar, ohne wenn und aber, sie verbinden schwarz und
weiß, das Werden mit dem Vergehen, sie kennen keine Gegensätze,
sondern nur Ergänzungen wie männlich und weiblich. Die zarten, in
den Himmel weisenden Blüten des Frühlings gehören zu ihnen wie die
satten, sich zur Erde beugenden schwarzen Beeren des Herbstes. Alles
hat Platz, wenn es aus dem Herzen kommt.
Wildpflanzen lassen uns in
symbolträchtigen Bildern schwelgen, die auf ihre Heilkunst
hinweisen. Sie wirken nie nur auf der körperlichen Ebene, sie sind
Nahrung und Medizin auch für Geist und Seele.
Um den Geschmack von Holunderblüten
kennen zu lernen, kannst du einfach eine Blütendolde zusammen mit
einer Scheibe Zitrone in einen Krug mit Trinkwasser geben, kurz
ziehen lassen und das abgeseihte Wasser trinken. Oder du pflügst ein
paar Blüten und zerkaust sie langsam.
Aus den Blüten lassen sich außer
starker Medizin allerlei Leckereien machen: Holundersirup, Marmelade,
Holundermilch, Küchle, Limonade, Sekt. Bevor du die Blüten pflügst,
überlege, was du damit machen willst. Denn auch die Beeren, die an
den nichtgepflückten Dolden wachsen, sind für uns Menschen – und
für zahlreiche Vogelarten – wahre Kraftpakete.
Die
Augenbraue der Venus ist eine atemberaubend vielfältige Heilpflanze.
In diesen Tagen zeigt sie sich mit ihren jungen, fein gefiederten
Blättchen von ihrer zartesten Seite. Die Schafgarbe, wie sie auch
genannt wird, ist eine Kriegerinnen-Pflanze. Ihre Kämpfe kennen
keine Feinde. In ihrer Welt gibt es kein Entweder-Oder. Sie ist
standhaft und zäh genauso wie weich und liebevoll.
Pflanzen
haben keine bösen oder guten Absichten, sie kommunizieren anders,
sind mit den Maßstäben unseres derzeitigen Menschseins kaum zu
erfassen. Deshalb ist es von Nutzen, sie genau wahrzunehmen. Denn sie
können uns in ihrer (Vor-)Urteilslosigkeit, ihrem Verwurzeltsein in
der Materie und ihren Verbindungen zur feinstofflichen Welt dabei
helfen, uns aus dem Strudel aus Misstrauen, Getrenntsein und Gewalt
herauszuziehen.
Die Schafgarbe ist für mich eine starke Helferin. Sie ist eine der ältesten Heilpflanzen der Menschen, die Wissenschaft hat mittlerweile über 100 heilwirksame Substanzen in ihr gefunden – eine beeindruckende Zahl, doch die ist lediglich dazu geeignet, unseren aufklärerischen Verstand zu beruhigen. Denn was zählt, ist die Pflanze in ihrer ausgefeilten, einmaligen Gesamtkomposition, worauf zum Beispiel die Kräuterfrauen Ursula Stumpf und Ursula Gerhold hinweisen.
Am Anfang des Kennenlernens steht die Kommunikation mit der Pflanze, bestenfalls über den Jahreszyklus hindurch. Die Schafgarbe ist immer präsent – im Frühjahr mit ihren jungen Blättern, die den Boden berühren, bis in den Winter mit ihren hochragenden trockenen Stängeln. Nehmt die Pflanze mit allen euren Sinnen wahr, streicht über die zarten jungen Blätter, der sie ihren schönsten Namen – Augenbraue der Venus – verdankt, seht sie in ihren aufrechten, kantigen, schwer zu brechenden Stängeln emporwachsen, staunt im Sommer über die Vielfalt ihrer Blütenblättchen, die sich zu einer Dolde vereinen und riecht den herb-süßen Duft. Dann wisst ihr schon jede Menge über dieses Heilkraut.
Benutzt auch den siebten Sinn, setzt euch zu der Pflanze, schließt die Augen, spürt euren Körper und die Verbindung zur Erde, dann nehmt über euer Herz Kontakt mit der Pflanze auf und bittet sie, mit euch zu reden. Dabei können Worte auftauchen, Bilder, Farben. Lasst sein, was sein will. Die Schafgarbe wurde früher in Tempeln aufbewahrt, und die Chinesen werfen das I Ging mit ihren Stängeln. Sie hilft beim Orakeln und Träumen genauso wie beim Grenzen ziehen und den eigenen Raum definieren.
Die Schafgrabe tut das, was Heilerinnen gemeinhin tun: Sie gleicht aus, bringt uns zurück in unsere Mitte und unterstützt uns, im (Lebens-)Fluss zu sein. Für mich ist sie eine Pflanze der Kriegerin und des weiblichen Kriegers, in deren Kämpfen die Regeln des Universums gelten. Sie verbindet Zähigkeit mit Zartheit, Stärke entsteht aus der Vielfalt, das Ziel ist die Wiederherstellung des Gleichgewichts. Und sie lässt kein Blut fließen, sondern stillt es selbst bei groben Verletzungen.
Es
gibt viele starke Pflanzenhelferinnen und -helfer. Die Pflanze, die
die eine begeistert, muss nicht die Zauberpflanze des anderen sein.
Am besten ist es, die eigenen Verbündeten zu finden.
Wer
mehr über die Schafgarbe und andere Pflanzen wissen will, dem
empfehle ich meine Lieblingsbücher über Heil- und Wildpflanzen:
Susanne Fischer-Rizzi, Medizin der Erde Anne McIntyre, Das große Buch der heilenden Pflanzen Luisa Francia, Weidenfrau und Wiesenkönigin Ursula Stumpf, Kräuter. Gefährten am Wegesrand Wolf-Dieter Storl, Heilkräuter und Zauberpflanzen zwischen Haustür und Gartentor Steffen Guido Fleischhauer u.a., Essbare Wildpflanzen D. Aichele, M. Golte-Bechtle, Was blüht denn da?
Verzicht, Hungern, Buße: Die mit dem Fasten verbundenen Worte machen nicht gerade Lust, sich darauf einzulassen. Vielleicht ist die zeitlich begrenzte Enthaltsamkeit – abgesehen von spirituellen Zwecken – ja auch nur eine Erfindung übersättigter Gesellschaften. Wer würde dem Körper sonst freiwillig Stoffe entziehen, die er zum Überleben braucht? Was zum Fasten geworden ist, mag einst im Jahreszyklus einfach eine Zeit der Erneuerung gewesen sein. Denn jetzt beginnen die grünen Wildkräuter zu sprießen. Sie versprechen Stärkung und Reinigung und machen uns nach der Winterstarre fit.
Nicht Verzicht ist der Begriff der Wahl, sondern Genuss. Zu genießen sind die frischen Frühlingspflanzen. Der Bärlauch weckt uns aus dem Winterschlaf, die Brennnessel lässt uns gestärkt in die Welt gehen, die Gundelrebe gibt uns Licht und Wärme, das Gänseblümchen zaubert uns ein Lächeln und Leichtigkeit ins Leben. Alle Frühlingskräuter schenken uns großzügig Mineralien, Vitamine, Spurenelemente und Vitalstoffe.
Bärlauch, Brennnessel, Gundelrebe,
Gänseblümchen lassen sich jetzt gerne direkt geplückt pur
probieren. Wenn sie üppig wachsen, gibt es zum Beispiel
Bärlauch-Risotto, Brennnessel-Suppe, Gundelreben-Schokolade und
Wildkräutersalat mit Gänseblümchen, Giersch, Vogelmiere,
Löwenzahnblättern, Taubnessel, Gundelrebe, Spitzwegerich…
(Dressing mit Honig oder klein geschnittenem Apfel süßen).
Die Wildkräuter schenken uns viel. Dafür gebührt ihnen Dank und Wertschätzung. Sie sind Heilerinnen und wollen in Maßen verzehrt werden. Damit verwandeln sie „Verzicht“ in „das richtige Maß finden“.
Zwiebel fein hacken, in der Butter andünsten, den Reis hinzufügen und kurz mitdünsten, den Weißwein angießen und einkochen lassen. Nach und nach die Gemüsebrühe hinzufügen, bei schwacher Hitze einkochen lassen. Das Risotto soll von sämiger Konsistenz sein. Kurz vor dem Servieren den in feine Streifen geschnittenen Bärlauch unterrühren. Mit Salz abschmecken.
(aus: Stefanie Klein, Bärlauch frisch aus dem Frühlingsparadies)
Gundelreben-Schokolade
Blätter der Gundelrebe langsam
trocknen. Schokoladenkuvertüre über dem Wasserbad vorsichtig
schmelzen. Die trockenen Blätter hineinrebeln und unterrühren. Die
Schokolade auf einem Backpapier dünn ausstreichen, abkühlen und
fest werden lassen. Im Kühlschrank lagern und kühl servieren.
(aus: Steffen G. Fleischhauer u.a.,
Essbare Wildpflanzen einfach bestimmen)
Die meisten Wildpflanzen sind nicht giftig. Die oberste Sammelregel lautet: Nur das ernten, was du wirklich kennst und eindeutig bestimmen kannst. Vorsicht ist bei den genannten Kräutern beim Bärlauch geboten. Er kann mit den giftigen Blättern des Maiglöckchens oder der Herbstzeitlosen verwechselt werden. Lieber einmal mehr an den Blättern reiben. Der Bärlauch hat einen unverwechselbaren Knoblauchgeruch. Am besten lernst du Wildpflanzen kennen, wenn du sie dir von einer/einem Kräuterkundigen zeigen lässt.