Ich muss nichts. Ich kann einfach nur leben. Die Federn des Raben schimmern im Herbstsonnenlicht. Das Blau im Schwarz lockt mich in die Leere, die voller Magie, nichts und alles ist. Die Ernte des Sommers werde ich mitnehmen. Ich schalte das Smartphone aus. Ein kleiner Kristall liegt in meiner Hand. Botschaften aus einer neuen, alten Welt versuchen mich zu erreichen. Ich überlasse mich der Dunkelheit und dem Licht. Dem Leben auf der sich wandelnden Erde.
Optimismus, habe ich gelesen, heißt, zu glauben, alles werde gut. Hoffnung bedeutet, zu wissen, dass letztlich alles einen Sinn hat.
Wenn Hunde schnüffeln, sagt mir jemand, lesen sie Zeitung. Sie nehmen dabei jede Menge Informationen auf. Allerdings bekommen die Hunde die Nachrichten aus erster Hand. Sie nehmen direkt wahr. Also, wie wäre es, statt einem Buch einmal die Erde zu lesen.
Die Holunderblüten beginnen zu strahlen. Dieser wunderbare Baum vor der Haustür ist mutige Vorreiterin, mächtige Heilerin, große Göttin… Ihre Blätter entfaltet sie früh, alles an ihr ist Medizin, und kaum eine andere Pflanze in unseren Breitengraden zeigt uns die Aspekte des Lebens in ihrer Vielfalt so wie sie. Also werde ich den Holunder lesen.
Der Ahorn zeigt mir eine lange Nase. Mich bekommst du nicht zu fassen. Ich bin schnell wie der Wind und frei wie das Licht. In Zeiten lähmender Schwere und übermäßiger Ernsthaftigkeit mag es gut tun, sich auf diesen weit verbreiteten heiteren Burschen aus der Baumwelt einzulassen.
Die Listen mythischer Bäume müssen ohne ihn auskommen. Mit heiligen Zaubersprüchen und tiefgründiger Symbolik hat der Ahorn nichts am Hut. Das König-Sein überlässt er seinen stolzen Verwandten, die Rolle des Narren gefällt ihm besser. Denn der Narr kann auch Unbequemes aussprechen, ohne um sein Leben oder zumindest seinen Ruf zu fürchten. Der Ahorn ist ein Spieler mit Formen und Farben, frech und unbekümmert. Und wer spielt, kommt manchmal zu überraschenden Neugestaltungen, die nie hätten geplant werden können.
Großzügig ist der Ahorn ganz nebenbei und ohne einen Preis zu verlangen. Seine Blätter sind Nahrung für Mensch und Tier und geben einen guten Kompost. In Zeiten der Not wurde aus dem Wasser des Berg-Ahorns Zuckersaft gewonnen. Der Ahornsirup heute wird aus dem Saft des kanadischen Zucker-Ahorns gewonnen.
Den Blättern wird eine kühlende Wirkung zugeschrieben. Als Heilmittel eingesetzt, helfen sie zum Beispiel bei Schwellungen, Gelenkentzündungen, Insektenstichen und Fieber.
Das Leben passiert, während wir versuchen, es zu planen, vorherzusehen, zu regulieren, zu kontrollieren. Mag sein, dass der eine oder die andere irgendwann mal inne hält und sich erinnert an das, was da eigentlich alles war. In der Zeit, wo er, sie keine Zeit hatte. Gedanken tauchen auf über das, was ist, während ich darüber sinniere, was alles hätte sein können. Während ich mir über meine Work-Life-Balance Sorgen mache. Und plötzlich merke, wie absurd es ist, Arbeiten und Leben zu trennen.
Gerade jetzt zeigt uns die Natur – zu der wir ja dazugehören – wie selbstverständlich sich Leben gestaltet, neu erschafft, aus dem nährenden Dunkel ans Licht kommt. Möglicherweise können wir die Welt verändern allein dadurch, dass wir uns auf die Seite des Lebens stellen und uns den Kräften der Zerstörung verweigern.
Um loszulassen, braucht es Vertrauen und Zuversicht. Eine starke kleine Pflanze kann dabei äußerst hilfreich sein: der Kriechende Günsel. Anders als sein Name nahelegt, steht er blau-violett blühend sehr gerade aufgerichtet auf artenreichen Frühlings- und Sommerwiesen. Unter der Erde allerdings geht er weit verzweigt in die Tiefe – und nimmt dich mit, wenn du willst. Lass dich fallen, sagt er. Ganz unten bist du bei dir angekommen und kannst dich mit einem Schatz im Gepäck an den Wiederaufstieg machen.
Die Schätze, die es in den Märchen zu finden gilt, sind meist nichts anderes als Symbole für das eigene authentische Sein in Verbundenheit mit einer Quelle der Fülle. Um diesen Schatz zu entdecken, heißt es, mutig zu sein. Vorgezimmerte Wahrheitsgerüste könnten unter dir zusammenbrechen.
Die Anspannung, die wir aufwenden, um nicht abzustürzen, mag uns vom Leben abhalten. Der Günsel hilft beim Fallen, indem er die Erstarrung löst. Die beschriebenen medizinischen Eigenschaften des Günsels scheinen nahezu grenzenlos. Wie immer geht es darum, da zu heilen, wo die Energien in unserem Körper aus dem Gleichgewicht geraten sind, bei Entzündungen, Vergiftungen, inneren und äußeren Wunden, Schmerzen, Wechseljahrsbeschwerden, Stoffwechselstörungen, Ängsten, Anspannungen…
Mach dir einfach erstmal eine Tasse Tee mit einem frischen, blühenden Stängel. Die Farbe des Wassers bringt dich vielleicht zum Staunen. Dann lass dich auf den Günsel ein oder lass ihn los.
Wenn du meinst, du lebt in einer verkehrten Welt und die passende allmählich zu erahnen ist,
wenn dein Verstand dein Herz verschließen will und dein Herz selbst „öffne dich“ flüstert,
wenn Enge deinen Körper bedrängt und dein weiter Schritt dich zu befreien sucht,
wenn das Außen dich aufzuzehren droht und du um deine Kraftquelle im Innern weißt,
dann kann es gut sein, dass du diesen Irrsinn einigermaßen unbeschadet durch dich hindurchfließen lassen kannst.
Ich denke an einen Aufruf der Hopi:
Da ist ein Fluss, der fließt jetzt sehr schnell. Er ist so mächtig und reißend, dass einige Angst haben werden. Sie werden versuchen sich am Ufer festzuhalten und werden fühlen, daß sie zerrissen werden. Und sie werden beträchtlich leiden.
Wisse, dass der Fluss seine Bestimmung hat. Die Ältesten sagen, wir müssen vom Ufer loslassen und in die Mitte des Flusses stoßen, unsere Augen offenhalten und unsere Köpfe über dem Wasser.
Und sie sagen:
Schaue, wer da mit dir ist und feiere. In dieser Zeit der Geschichte dürfen wir nichts persönlich nehmen, am allerwenigsten uns selbst. Denn in dem Moment, wo wir dies tun, kommt unser inneres Wachstum und unsere Reise zum Stillstand.
Die Zeit des einsamen Wolfes ist vorbei.
Kommt zusammen, verbannt das Wort „Mühsal“ aus eurer Haltung und eurem Vokabular. Alles was wir jetzt tun, muss auf eine heilige Art und Weise getan werden und im Feiern.
Versöhnung könnte auch eine weibliche Form haben: Vertöchterung. Beides meint, dass wir nach-geben im Bewusstsein des Gemeinsamen über Grenzen hinweg: Wir sind Söhne und Töchter einer Erdenfamilie. Ohne Versöhnung ist Frieden unmöglich. Erkämpft werden kann er nicht. Wenn Frieden ist, sind längst die Waffen aller Art niedergelegt. Dann gibt es nur noch Sieger – oder am besten gar keine mehr.
Laut dem Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm ist das Wort „Sieger“ übrigens „im allgemeinen den älteren dialecten fremd“.
Grau ist der Himmel, grau scheint die Erde. Nebelschleier verhüllen die Farben. Auch die eines zauberhaften Strauches, dessen gelbleuchtenden zarten Blütenblätter sich in die winterkalte Welt strecken. Wie kann das sein? Es ist … Magie im Spiel. Hexenhasel, Zaubernuss wird die Pflanze genannt, für die Indigenen in ihrer Heimat war sie eine der bedeutendsten Heilerinnen.
Die Virginische Zaubernuss ist eine von vielen Hamamelis-Arten. Aus Nordamerika eingewandert, ziert sie so manchen deutschen Wintergarten. Meist ungeahnt bleiben ihre schier unendlichen Einsatzmöglichkeiten auf dem Gebiet der Medizin. Blutstillend, antiseptisch, antioxidativ, schmerzstillend, harntreibend, entzündungshemmend, juckreizstillend, die Selbstheilungskräfte stimulierend: Die Liste ihrer Fähigkeiten ist lang. Die Heilkräfte verbergen sich in der Rinde und in den Blättern, die denen der europäischen Haselnuss ähneln. Zauberinnen sind sie beide.
Ich denke an Maya, als ich die Blüten der Hamamelis betrachte, an die Göttin, die aus dem Nichts alles erschafft, was wir mit den Sinnen wahrnehmen können. Es heißt, Maya täusche uns mit Trugbildern. Doch womöglich ist nicht die Materie Illusion, sondern der Schleier, der unsere Welt von den bunten Gesetzen der Schöpfung trennt.